T R U T H Ü H N E R I N D E U T S C H L A N D
Truthahnjagd im Rheinland – was sich historisch anhört, ist Realität: Im Kottenforst wurde nach 18 Jahren erstmals wieder ein Wildtruthahn gestreckt. CHRISTOPH BOLL hat sich auf die Fährte begeben.
FOTO: NUSSBAUMER/ROLF NUSSBAUME WWW.NATUREPL.COM
Als Helmut Küster an diesem Freitagmorgen den Hochsitz besteigt, ist er im Begriff, auf eine Wildart zu waidwerken, die in Deutschland selten ist. Nur gut 400 Wildtruthühner sind in der Bundesrepublik seit deren Gründung zur Strecke gekommen. Der Landwirt aus Alfter ist der Erste, der nach 18 Jahren wieder einen Hahn im Kottenforst erlegen darf – den 74. in der wechselvollen Geschichte des Wildtruthuhn- Vorkommens nahe Bonn (Nordrhein- Westfalen), das heute etwa 100 Stücke umfasst. Es ist heute der einzige deutsche Bestand einer Art, die in ihrer domestizierten Form als Pute bekannt ist und ihre Heimat in Nordamerika hat.
Mag das Hausgeflügel auch als dumm verschrien sein, seine Verwandten im nördlichen Kottenforst sind hellwach, äußerst scheu und machen ihrem Namen als Wild alle Ehre. Sie äugen sehr gut. Erweckt etwas ihren Argwohn oder nehmen sie eine Bewegung wahr, recken sie Hals und Kopf und machen sich im Zweifelsfall schleunigst aus dem Staub, meistens laufend. Bis zu 40 Stundenkilometer erreichen die Truthühner dabei. Geraten die bis zu acht Kilogramm schweren Vögel allzu sehr in Bedrängnis, reiten sie ab und sind dann bis zu 85 Stundenkilometer schnell.
Diese gerechte Fährte verrät die Anwesenheit eines Wildtruthahns. Foto: Christoph Boll
Bereits gegen 5.30 Uhr sitzt Küster deshalb am 15. April dort an, wo zuvor zwei reife Hähne und etliche Hennen bestätigt worden sind. Zwei Stunden später tritt der kleine Trupp auf die Lichtung. Die Bodenbalz beginnt. „Im Schein der aufgehenden Sonne glänzte das Gefieder stahlblau. Ich hab‘ durchaus schon Wildtruthühner im Revier gesehen, jedoch noch nie bei der Balz. Eine halbe Stunde lang hab‘ ich das Treiben beobachtet. Das war ein außergewöhnliches Erlebnis“, erinnert sich der Landwirt. Seit 38 Jahren ist der 58-Jährige Jäger. Jagdfieber kennt er normalerweise nicht. „Aber diese Beobachtung mit ihrem vielfältigen Farbenspiel hat mich schon berührt. Einen Moment habe ich sogar überlegt, nicht zu schießen. Dabei war mir klar: Das ist die erste und wahrscheinlich einzige Chance auf einen Wildtruthahn, die ich bekomme.“ Als der Jäger dann auch noch feststellt, dass einer der beiden annähernd gleich alten Hähne eine leichte Behinderung am Ständer hat, fällt die Entscheidung und kurz darauf der Schuss mit der .22 Hornet.
Küster freut sich über den guten Schuss, muss dann aber mit ansehen, wie der zweite Hahn den erlegten Konkurrentenunablässig attackiert. Es hilft kein Händeklatschen und Räuspern, die ersten Federn fliegen bereits. Erst als Küster und sein Begleiter abbaumen, flüchtet das Wild. Wenig später hält der Erleger einen fünfjährigen Hahn mit 25 Zentimeter
langem Bart in Händen. Es ist der einzige Hahn, den der Wildputenhegering in diesem Jahr freigegeben hat, ein reifes Stück und dazu noch ein Hegeabschuss. Als Ganzkörperpräparat in Balzpose wird er künftig an dieses seltene Waidmannsheil erinnern.
Helmut Küster erlegte nach 18 Jahren den ersten Wildputer im Kottenforst. FOTO: DR. HEINRICH SPITTLER
Die Jagd auf Truthähne ähnelt jener auf Raufußhühner. Wie anstrengend und zugleich beglückend dieses Waidwerk ist, durfte auch Antonius Freiherr von Boeselager erleben. Seit einem runden Jahrzehnt ist er Vorsitzender des Wildputenhegerings im Kottenforst. Er erlegte seinen Hahn bereits Anfang der 1970er Jahre. Auch wenn es das Präparat nicht mehr gibt, erinnert er sich genau: „Am Vorabend haben wir den Hahn verhört. In aller Herrgottsfrühe bin ich dann aufgestanden, habe mein Gesicht geschwärzt, um nicht eräugt zu werden, und bin im Dunkeln den Hahn unter dem Schlafbaum ganz langsam und jedes Geräusch vermeidend angegangen. Als ich ihn in der Dämmerung sicher ansprechen konnte, habe ich ihn mit Vier- Millimeter-Schrot aus dem Schlafbaum geschossen. Es war eines meiner aufregendsten Jagderlebnisse.“
Von März bis Mitte Mai sind im Kottenforst die kollernden Balzrufe der Hähne zu hören, die in „Grzimeks Tierleben“ anschaulich als schnaufend und stumpf dröhnend beschrieben sind. Oft erklingt das „Gobbelobbelobbel“, das dem Wildtruthahn in seiner Stammheimat Nordamerika die Bezeichnung Gobbler einbrachte. Sieht dieses Wild mit seinen federlosen Hälsen und Köpfen schon skurril aus, so gilt dies ganz besonders für die Balz. Dann schwellen die nackten Hautauswüchse an und färben sich rot. Wissenschaftler der North-East- Louisiana-Universität wollen herausgefunden haben, dass die Größe dieser Warzen und Hautlappen sowohl mit dem Alter als auch mit dem Testosteronspiegel, also der Produktion männlicher Sexualhormone, korreliert.
„Ich möchte auf jeden Fall, dass jedes Jahr mindestens ein Hahn geschossen wird. Dann haben die Mitglieder auch Spaß an ihrer Zugehörigkeit zum Wildputenhegering“, verdeutlicht von Boeselager, dass es ihm um eine – wenn auch bescheidene – nachhaltige Nutzung geht.
Die Jagd auf Wildtruthühner durch Einbürgerung in Deutschland zu ermöglichen und aufrecht zu erhalten, ist in vergangenen Jahrhunderten mehrfach versucht worden. Dabei ist offen, ob die ersten nachgewiesenen Vorkommen auf echten Wildtruthühnern aus Amerika basierten oder auf verwilderten Hausputen. Sicher ist nur, dass sie um 1930 sporadisch in Deutschland vorkamen und deshalb 1934 als jagdbare Wildart ins Reichsjagdgesetz aufgenommen wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Vorkommen zwar erloschen, die Wildtruthühner schafften gleichwohl als jagdbare Wildart den Sprung ins Bundesjagddgesetz – sogar mit Schusszeiten für Hähne und Hennen. Eine Berechtigung erhielt dies erst wieder 1957. Damals begannen die ersten Einbürgerungsversuche, von denen es in der Geschichte der Bundesrepublik insgesamt elf gegeben hat.
Urheber war der damalige nordrheinwestfälische Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Dr. Josef Effertz. Er wohnte am Rande des Kottenforstes im kleinen Örtchen Miel, war kein Jäger, wohl aber ausgesprochener Vogelliebhaber. Auf seine Anweisung hin leitete die Forschungsstelle für Jagdkunde und Wildschadenverhütung an vier Orten in Nordrhein-Westfalen einen Einbürgerungsversuch ein. Die Bemühungen in der Revierförsterei Eckelau im Bundesforstamt Senne scheiterten aber ebenso im ersten Jahr wie der Versuch im westfälischen Ochtrup.
Junge Wildtruthühner bei der Auswilderung im Kottenforst Foto: Christoph Boll
Deutlich erfolgreicher war man zunächst in der Revierförsterei Bönninghardt im Staatlichen Forstamt Xanten. Das rund 1 000 Hektar große Mischwaldgebiet am linken Niederrhein wurde Heimat von zwei Hähnen und vier Hennen. Die Pennsylvania Game Commission lieferte sie, vermittelt durch den amerikanischen Generalkonsul Raymond P. Ludden, aus dem amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania als Geschenk. Die sechs Exemplare des amerikanischen Bronzeputers (Meleagris gallopavo silvestris) vermehrten sich zwar nicht so gut, wie aufgrund der Hennenzahl zu erwarten gewesen wäre, doch hatte sich bis 1965 ein respektabler Bestand von rund 300 Stück aufgebaut. Der brach innerhalb von sieben Jahren komplett zusammen. Dafür verantwortlich gemacht wurden die Witterungsund Krankheitsanfälligkeit der Küken, Verluste durch die Fressfeinde Habicht, Fuchs und Schwarzwild, Abwanderung und illegale Abschüsse. Immerhin wurden aber
auch rund 20 ältere Gobbler offiziell erlegt, ausschließlich während der Balz.
Dass auch im Kottenforst die Hähne nur während der Balz erlegt werden, ergibt sich schon aus der kurzen Jagdzeit vom 16. März bis 30. April Hennen sind ganzjährig geschont. Ausgangspunkt des Besatzes waren 200 Bruteier, die 1958 als Geschenk der Pennsylvania Game Commission geliefert wurden. Die Population nahm kontinuierlich zu, sodass am 3. März 1967 ein Wildputen hegering gegründet wurde. Zehn Mitglieder verpflichteten sich per Satzung, „den vorhandenen Wildputenbestand in ihren Revieren einer gemeinsamen Bewirtschaftung zu unterstellen. Das gilt insbesondere für die Festsetzung des Abschusses.“ Bei geschätzten 150 Tieren wurden bis zu acht Hähne freigegeben.
Künstlich ausgebrütete Küken wenige Tage nach dem Schlupf FOTO: HEINRICH SPITTLER
Parallel zum Erstarken des Fuchsbesatzes nach den vorangegangenen Tollwut-Seuchenzügen schrumpfte das Wildtruthuhn-Vorkommen schon bald deutlich. Es erholte sich jedoch spürbar, nachdem mehrere Jahre aufgezogene Vögel ausgesetzt worden waren. Auch heute ist Reineke eines der Hauptprobleme. Großer Hegemaßnahmen oder Biotopgestaltung bedürfe es nicht. Nur die Fressfeinde des Trutwildes müssen kurz gehalten werden, erläutert von Boeselager. „260 Füchse haben wir im vergangenen Jahr geschossen. Aber so gut wie keiner davon ist im Staatsforst gefallen.“ Der Vorsitzende verhehlt nicht, dass er sich von dem Mitglied, das die Gründung des Hegerings initiierte und satzungsgemäß die Federführung übernahm, stärkeres Engagement wünscht. Aber irgendwie passe das wohl nicht in die politische Vorgabe, was sich auch darin spiegele, dass die Forschungsstelle die Wildtruthühner quasi nicht mehr wahrnehme. Im Hegering aber „hat es immer geklappt“, auch wenn unter den heute elf Mitgliedern einige Genossenschaftsreviere sind und dort gelegentlich die Pächter wechseln.
Als Trophäe gelten der Stoß und der Bart des Wildtruthahns. FOTO: CHRISTOPH BOLL
Wie groß das Interesse der Jagdausübungsberechtigten ist, zeigte sich, nachdem der Besatz ab Mitte der 1990er Jahre schrittweise erneut zurückging. Sie wollten ihn nicht erlöschen lassen und gewannen die HIT Umwelt- und Naturschutzstiftung als Sponsor, die bis 2010 über fünf Jahre insgesamt 50 000 Euro zur Verfügung stellte. Eier und Küken von Wildfängen wurden aus Amerika importiert, zwei Zuchtstämme mit jeweils einem Hahn und insgesamt sieben Hennen aufgebaut, eine Aufzuchtund eine Aussetzungsvoliere errichtet.
„Das Ziel, fünf Jahre lang jeweils 50 junge Wildtruthühner auszusetzen, konnten wir nicht erreichen. Es sind insgesamt 167 geworden. Dieses Wild ist viel schwieriger zu handhaben als etwa Enten oder Fasanen. Die Befruchtungsrate der Eier beträgt nur 60 Prozent. Und nur aus der Hälfte der befruchteten Eier schlüpft tatsächlich ein Küken“, schildert Dr. Heinrich Spittler die Erfahrungen. Seit etwa vier Jahrzehnten begleitet und betreut der Wissenschaftler die Wildtruthühner im Kottenforst.
Mit dem gleichen Engagement wollen die Mitglieder des Hegerings noch einige Zeit den Bestand durch Aussetzungen stärken. Weil kein Sponsorengeld mehr fließt, haben sie deshalb im Frühjahr einstimmig beschlossen, erstmals pro Mitglied eine jährliche Umlage von 320 Euro zu zahlen.
Ganz der Tradition verhaftet bleibt es aber bei der Verlosung der wenigen Abschüsse. Dabei ist selbstverständlich und bewährt, dass ein Gewinner, wenn er wie Helmut Küster aus einem Randrevier kommt, die Jagd in einem der sechs Kernreviere mit insgesamt 3000 Hektar ausüben darf. Der zufrieden strahlende Jäger weiß nicht zuletzt deshalb: „Das Glück in Deutschland einen Wildtruthahn zu erlegen, hat man nur einmal.“
Ähnlich wie beim Fasanenhahn lässt sich das Alter anhand des Sporns ermitteln: Je länger und spitzer, desto älter der Hahn. FOTO: CHRISTOPH BOLL
Gobbler sind begehrtes Wild
FOTO: CHRISTOPH BOLL
Wenn es nach dem amerikanischen Gründervater Benjamin Franklin (1706–1790) gegangen wäre, führten die USA heute den Wildtruthahn im Wappen. Bereits für die Pioniere der Besiedlung Nordamerikas lieferte der Gobbler wertvolles Wildbret. Bis heute haben die Wildtruthühner, die je nach Unterart bis 1,25 Meter Körperlänge und 17 Kilogramm Gewicht erreichen können, einen hohen jagdlichen Stellenwert. Eine eigene Wildtruthahn-Gesellschaft (National Wild Turkey Federation) hat sich ihrer angenommen und mit dazu beigetragen, dass sich der Anfang der 1930er Jahre auf nur noch rund 30 000 Stück zusammengeschmolzene Besatz auf heute mehr als sieben Millionen erholt hat.
Ausgeübt werden Lockjagd, Ansitz und Pirsch mit Flinte, kleiner Kugel oder Bogen. Als Trophäe des etwa zehn Jahre alt werdenden Hahns gelten neben dem Ganzkörperpräparat der Stoß und der Bart, ein Büschel haarähnlicher Brustfedern, die kontinuierlich nachwachsen. Im Kottenforst gilt ein Hahn ab vier Jahren als reif, wenn der Bart mindestens 20 Zentimeter lang ist. Er wird kaum länger als 25 Zentimeter, weil er dann beim geduckten Laufen und der Äsungsaufnahme über den Boden schleift und sich dadurch abnutzt.
Das Kollern balzender Hähne, die polygam sind, ist einige hundert Meter weit zu hören. Die Hennen legen zehn bis zwölf Eier, die sie in 28 Tagen ausbrüten. Idealer Lebensraum der Wildtruthühner, die tagsüber in kleinen Trupps umherziehen und die Nächte auf Schlafbäumen verbringen, sind lichte Laub- und Mischwälder. Die Vögel vernehmen und äugen außerordentlich gut. Sie äsen Früchte, Samen, Blätter und Gräser, verschmähen aber auch Insekten, Schnecken und andere Wirbellose nicht. chb
Interview mit Dr. Spittler
Hier finden Sie ein ausführliches Interview mit dem Experten.