BOCKJAGD IN UNGARN
Mit einem wahren Lockjagdprofi und seinem außergewöhnlichen Adjutanten war Thore Wolf zur Blattjagd in Südungarn unterwegs.
Die ersten Sprengfiepe sind verklungen. Das Stück, das bisher hinter einem kleinen Busch stand, ist auf den Läufen. „Fehlalarm“, flüstert Jagddirektor Péter Fehér, „eine Geiß“. Als ich das Glas absetzen will, eine weitere Bewegung rechts von ihr. Ein Bock. Leider zu jung und zu gut. Plötzlich flüchtet er ebenso schnell, wie er gekommen war.
„Warte, da ist was im Gange“, murmelt Péter leise. Wie aus dem Nichts erscheint am Horizont ein weiteres Reh. Noch ein Bock! Auf dem Haupt ein massiger lauscherhoher Spieß, auf der anderen Seite eine Stange, die sich zu den Enden hin merkwürdig verdickt. Das Alter des Stückes scheint zu passen. „Abschussbock“, flüstert der Berufsjäger. „Mach dich fertig. Mister James. Nimm!“ Er reicht mir sein etwas klobiges selbst gebautes Zweibein aus zwei Robinienholz-Halblingen. Im Nu ist die Waffe aufgelegt. Was meint er mit Mister James? Zeit zum Nachfragen bleibt nicht. Zwei weitere Rufe aus dem Blatter lassen den Bock kurz aufwerfen. Aber er schert sich nicht um die Laute und treibt die Geiß. Ein paar Kitzfiepe versetzen das weibliche Stück in Bewegung, der Bock folgt ihm unablässig in unsere Richtung. Jetzt warte ich gespannt auf den vereinbarten Schrecklaut von Péter, der die Stücke stoppen soll. Konzentriert verfolgt das Absehen das Blatt des Gehörnten. Nur noch wenige Meter, dann stünde er wieder hinter einem Busch.
Péter schreckt. Der Bock verhofft, wirft auf und fällt im Knall. „Waidmannsheil!“ Mein Jagdführer freut sich mit mir: „Solch ein Abnormer und das gleich am ersten Abend. Das müssen wir feiern.“
Später beim Abendessen erklärt mir Péter, dass er den Bock bis dato nicht kannte. Sein Alter schätzt er auf acht bis zehn Jahre. Auch keiner seiner Berufsjäger, denen er unmittelbar nach der Erlegung ein Handy-Foto des Abnormen geschickt hatte, kannte den „Spießer mit der Teufelskralle“, wie ich ihn scherzhaft nenne. Bedenkt man, dass in dem 33 000 Hektar (ha) großen Jagdgebiet Bóly in Südungarn jährlich etwa 400 Stück Rehwild, darunter 100 Böcke, erlegt werden, wundert das nicht. Im Verhältnis zur Gesamtfläche ein äußerst zurückhaltender Abschuss von etwa 1,2 Stück pro 100 ha. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass hier eigentlich Rotwild die Hauptrolle spielt. Hirsche mit Geweihen jenseits der 14-Kilo-Marke sind in dem Revier an der ungarisch-kroatischen Grenze keine Seltenheit. Die Trophäen reifer Böcke wiegen häufig mehr als 500 Gramm. Der stärkste Bock aus dem Revier brachte es gar auf 678 Gramm.
Am nächsten Morgen geht es wieder früh los. „Oh, hab‘ Mister James vergessen“, sagt Péter, spielt an seinem Handy herum und eilt mit großen Schritten Richtung Jagdhaus. Wahrscheinlich muss er noch jemanden anrufen. Ständig steht der Jagddirektor per Handy mit seinen Berufsjägern in Kontakt, weiß somit jederzeit, was in seinem Beritt los ist. Ein Rumpeln auf der Ladefläche des Pick-ups zeigt: Péter ist zurück. „Los gehts“, sagt er und springt ins Auto. Auf der Fahrt durch Bóly fallen sofort zahlreiche deutsche Namen an Gasthäusern und Geschäften auf.
„Donauschwaben“, erklärt der Ungar. Der Wiener Hof hatte sie im 17. und 18. Jahrhundert dort angesiedelt. Als Bauern und Handwerker sollten sie das brache Land an der Donau nutzbar machen. Ihnen winkten Häuser, Ackerland und zehnjährige Steuerfreiheit. Diesem Angebot der Habsburger folgten vor allem ärmere Menschen aus der Pfalz, Württemberg, Baden, Bayern und Franken. Auf Holzflößen wurden sie die Donau abwärts in die ungarische Tiefebene gebracht. Zahlreiche Überschwemmungen des Flusses brachten Krankheiten, denen viele der neuen Siedler zum Opfer fielen. „Den Ersten Tod, den Zweiten Not und erst den Dritten Brot“, lautet ein bekannter Volksspruch der Donaudeutschen, wie Péter zu berichten weiß.
Nach wenigen Kilometern durch riesige Feldschläge gelangen wir zu einem kleinen Auwald. Langsam pirschen wir durch die dichte Vegetation. „Hier ist gute Stelle für Bock“, sagt Péter. Wir richten uns auf dem Waldboden ein. Péter trägt keine Tarnkleidung. Er ist überzeugter Traditionalist und setzt auf Naturmaterialien: Im Nu hat er ein Bündel Äste geschnitten, die er in die Spalte des auf dem Boden liegenden zusammengeklappten Zweibeines steckt. In Sekunden entsteht daraus ein Tarnschirm. „Zielstock brauchst du nicht, schießt du so!“ Kein Problem, denn es sind sowieso nur 50 Meter vor uns einsehbar.
Wegen der Nähe zum Einstand beginnt der Lockjagdprofi mit ein paar leisen Fieplauten. Etwas bewegt sich zwischen den Stämmen. Gespannt warten wir. Ein gewaltiges Schrecken
hinter uns lässt uns zusammenfahren. Fast synchron blicken wir nach hinten: Keine zehn Schritte entfernt steht ein Jährling im vollen Wind und springt unter lautem Protest wieder ab. Kurz darauf schreckt ein weiteres Stück aus der Dickung. Sofort nutzt der Jäger die Chance und jagt ein paar Sprengrufe durch den Wald. Doch außer den lästigen Stechmücken lässt sich in der nächsten Stunde kein Lebewesen mehr sehen. Wir ziehen
weiter zum nächsten Blattstand in einer Hecke im Feld. Wer jetzt einen Hochsitz erwartet, irrt. „Blattjagd ist Bodenjagd“, erklärt Péter. Die Hochsitze im Revier nutzt er für die Rufjagd auf Böcke fast nie. Er ist überzeugt: „Auf Augenhöhe mit Rehwild ist das besser!“. Die Lockjagd – ob auf Rehwild, Rothirsche oder Füchse – hat den 40-Jährigen seit Kindesbeinen in ihren Bann gezogen. 2003 hat ihm diese Passion sogar den Europameistertitel der Hirschrufer beschert. Dass der Hirschrufer auch vortrefflich blatten kann, beweist er in der nächsten Stunde. Péter lockt von ein und demselben Stand drei verschiedene Böcke heran, die wir alle pardonieren – zu jung. „Besserer Bock kommt noch“, so Péters Kommentar. Als dann tatsächlich ein vierter springt, stockt mir der Atem. Bereits auf 100 Meter erkenne ich mit bloßem Auge das starke Gehörn: mehr als doppelt lauscherhoch, sechs lange Enden, gut geperlte massige Stangen. Vorsichtshalber will
ich Péters Zweibein nehmen, um schussfertig zu sein. „Lass Mister James!“, zischt der Berufsjäger. Aha, der Bock heißt also Mister James, denke ich. „Bock ist sehr gut, 400 bis 500 Gramm, aber höchstens fünf Jahre“, flüstert der Jagdführer. Das Zielalter
für Ernteböcke liegt im Revier Bóly bei mindestens sechs Jahren, und so bleibt der Finger gerade.
In einem anderen Revierteil treffen wir Laszlo, einen von zehn Berufsjägern, die unter Führung von Péter das Revier Bóly der landwirtschaftlichen Firmengruppe Bonafarm bewirtschaften. Laszlo weiß einen guten Abschussbock. Péter erzählt, dass bereits zwei Versuche, den Bock zu bekommen, gescheitert waren. Das Problem: Der Einstand des Gehörnten liegt mitten im Feld, das Jägern kaum Deckung bietet, um nahe genug ranzukommen. Das Revier ist nur zu rund zehn Prozent bewaldet. Hauptsächlich Sumpf- und Auwälder, die immer mal wieder die weitläufigen Mais- und Sojafelder durchziehen.
Wir pirschen durch einen Heckenstreifen, der sich wie ein grünes Band Hunderte Meter durch die Agrarlandschaft schlängelt. Von hier aus können wir gut gedeckt das Offenland einsehen. Plötzlich gibt uns Laszlo ein Zeichen – stehenbleiben. „Dort im Mais ist Einstand von Bock“, sagt er und zeigt aufs Feld. Der Maisacker liegt jedoch knapp 700 Meter entfernt, davor noch ein umgebrochener Acker ohne Deckung. Péter schaut seinen Berufsjäger fragend an, überlegt kurz und hat einen Plan: „Gehen wir unseren Weg 200 Meter weiter und probieren dort drüben, den Bock zu rufen. Von da sind nur noch 150 Meter Sojafeld zwischen uns und Mais.“ Kaum hat Péter ausgesprochen, trollt Rotwild
aus der Hecke: Alttier, Schmaltier und Kalb. Genau dort, wo wir hin wollten. Wir warten. Doch auch nach einer halben Stunde machen die drei keine Anstalten, weiterzuziehen. Der ansonsten so geduldige Péter wird unruhig: „Wir gehen übers Feld!“ Ich frage mich, wie das gehen soll, ohne Deckung, direkt vor den Lichtern des Rotwildes.
Péter deutet Laszlo zurückzubleiben und erklärt seine Taktik: „Geh gebückt ganz nah hinter mir.“ Der Chef-Jäger nimmt sein Zweibein, klappt es auf und hält es verkehrt herum vor seine Brust. Mit dem Zweibein und unsere Körperhaltung – er aufrecht vorweg, ich gebückt dahinter – will er eine Hirschsilhouette imitieren. Ob das funktioniert? „So locke ich auch Hirsche in Brunft“, lässt er mich wissen. Es scheint zu klappen. Alle paar Schritte drehe ich den Kopf zur Seite und sehe, dass das Kahlwild keine Notiz von uns nimmt.
Nach 200 Metern, die sich bei dieser Gangart wie 20 Kilometer anfühlen, legen wir uns langsam bäuchlings auf den Acker. Kurz darauf beginnt Péter zu blatten. Nach ein paar Arien zieht ganz kurz ein Stück aus dem Mais und verschwindet wieder. Péter blattet nun immer aggressiver. Plötzlich geht alles sekundenschnell. Das Stück jagt wie eine Rakete raus auf den blanken Acker in eine nicht einsehbare Bodensenke. „Das ist er, schießen, sobald steht. Hier Mister James, nimm“, sagt mein Pirschführer und schiebt den ganz weit aufgeklappten Zielstock rüber. Mister James? Heißen hier alle Böcke so? Ist das jetzt ein Spitzname für mich? Keine Zeit nachzudenken – Péter setzt zwei, drei laute Sprengfiepe ab, und aus der Bodensenke erscheint am Horizont ein starkes Bockgehörn. Wahnsinn, was für ein Prachtkerl! Ein ungerader Sechser mit massigen Rosen. An der linken Stange ein nach innen gebogener Spross. Er hält auf uns zu. Mein Puls rast. Als der Gehörnte in die nächste Bodenwelle springt, verhofft er. Der Schuss reißt ihn von den Läufen. Ich bin fix und fertig, mein Herz hüpft vor Freude. „Waidmannsheil“, gratulieren mir Péter und der herbeigeeilte Laszlo.
Nachdem ich meinen Bock von allen Seiten bestaunt habe, binden wir ihn an Péters Zielstock fest, um ihn gemeinsam zum Auto zu tragen. Jetzt muss ich Péter fragen, was es eigentlich mit diesem „Mister James“ auf sich hat. „Du hast ihn auf Schulter“, entgegnet mir der Ungar, und steckt sich eine Pfeife an. „Mein Zielstock! Nicht nur zum Schießen gut, sondern für Tarnen, Locken und Wild tragen. Mister James eben – Helfer für alle Fälle!“