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Grenzwertig: Tötungswirkung bleifreier Geschosse

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Die Gremse/Rieger-Studie zur Tötungswirkung bleifreier Geschosse wirbelte viel Staub auf. Die WILD UND HUND-Experten Michael Schmid und Claudia Elbing setzen sich mit dem umstrittenen Papier auseinander.

Seit Dezember 2012 ist der von Dipl. Forstwirt Carl Gremse und Prof. Dr. Siegfried Rieger erstellte Abschlussbericht (Entscheidungshilfevorhaben) „Ergänzende Untersuchungen zur Tötungswirkung bleifreier Geschosse“ offiziell auf der Internetseite der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung abrufbar (www.service.ble.de). Die Studie kommt auf der Basis von zwei groß angelegten Felderhebungen (Brandenburg 2006 – 2009 und Bundesforst 2010 – 2012) zu dem Ergebnis, „dass die Herstellung tierschutzgerecht und jagdpraxiskonform anwendbarer Geschosse ohne Verwendung von Blei nachweislich möglich ist“.
Dazu wurden 11 371 Erlegungsprotokolle mit unterschiedlichen Parametern, wie Schussentfernung, Geschoss, Material, Kaliber, Wildart und Gewicht, elektronisch erfasst, statistisch ausgewertet und interpretiert. Parallel zu den Praxisergebnissen entwickelten die beiden Autoren ein standardisiertes Prüfverfahren für Jagdprojektile.


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Teilzerlegungsgeschoss: Hohe energie- und Splitterabgabe bereits nach kurzer Eindringtiefe (Gelatinebeschuss).

 

 


Dabei wird ballistische Seife (Wildkörpersimulation) mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten beschossen. Anhand des plastisch abgebildeten Kavernenvolumens lässt sich der Energieeintrag in Abhängigkeit von der Eindringtiefe ermitteln. Als Mindeststandard für die Jagd auf Schalenwild legten Gremse und Rieger die „Grenzgeschwindigkeit Jagd“ (GVJagd) fest. Der Wert definiert die Geschwindigkeit, bei der das geprüfte Geschoss folgende Kriterien („Grenzleistung Zielballistik Jagd“ (GLJagd)) nicht mehr erfüllt:
• Eindringtiefe in ballistische Seife > 30 Zentimeter (cm)
• Energieabgabe > 100 Joule pro cm Eindringtiefe
• Die geforderte Energieabgabe muss zumindest über die ersten 15 cm Eindringtiefe (einschussseitig) dauerhaft erfolgen.

 


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Deformationsgeschoss: Verzögertes Ansprechen und über eine lange Strecke sichergestellte Energieabgabe ohne Splitter (Gelatinebeschuss).

 


Aus der GVJagd lässt sich die maximale Einsatzreichweite (Auftreffgeschwindigkeit < GVJagd) des Projektils/der Laborierung ableiten. Für einen Teil der bei den Feldversuchen eingesetzten Geschosse ermittelte die Deutsche Versuchs- und Prüfanstalt für Jagd- und Sportwaffen e. V. die GVJagd. Die Werte wurden mit 2 881 Abschussberichten aus dem Bundesforst und Brandenburg abgeglichen. Aus der vergleichenden Analyse schließen die Autoren, dass ein Projektil, das die GVJagd überschreitet, grundsätzlich wirksam und für die Schalenwildjagd geeignet ist.
Daraus wiederum leitet sich die Empfehlung an den Auftraggeber (Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz) ab, das Prüfverfahren bei der Munitionszulassung anzuwenden. Dadurch soll sichergestellt werden, dass nur Geschosse/Laborierungen (bleihaltig und bleifrei) mit zuverlässiger Tötungswirkung und bekannter maximaler Einsatzentfernung auf den Markt kommen. Auf den ersten Blick eine gute Idee, wären da nicht Fehler und Schwächen im Gremse/Rieger-Gutachten, die sowohl das gute Abschneiden bleifreier Geschosse im Feldversuch als auch das Prüfverfahren „Grenzleistung Zielballistik Jagd“ infrage stellen.
1.) Geschossauswahl bei den Feldversuchen

Sowohl in Brandenburg als auch beim Bundesforst blieb die Geschoss-, Kaliber und Laborierungsauswahl weitgehend den Testern überlassen. Eine systematische Aufteilung zum Beispiel nach dem Wirkprinzip (Deformation, Teilzerlegung) unterblieb. Entsprechend bunt und wenig repräsentativ ist die Liste.

 


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Um die Tötungswirkung bleifreier Geschosse zu bewerten, ist der praktische Vergleich mit bleihaltigen Projektilen maßgebend. Voraussetzung dafür ist eine annähernd gleich große Zahl an Abschüssen. In den Feldversuchen beträgt der „Blei-Anteil“ jedoch gerade mal 19 Prozent (%). Die am häufigsten verwendeten bleihaltigen Varianten sind zum Teil angestaubte Oldtimer (Teilmantelrundkopf, RWS Kegelspitz). Bewährte moderne Projektile wie Norma Oryx, Sako Hammerhead oder Hornady Interbond sucht man vergeblich.
Trotz oben genannter Mängel lieferten die bleihaltigen Projektile bei den Feldversuchen eine signifikant bessere Stoppwirkung. 53,4 % der Stücke verendeten sofort am Anschuss, bei bleifreier Munition lagen lediglich 44,1 % im Feuer. Auch wenn man kurze Todesfluchten bis 40 Meter (m) als tierschutzkonform akzeptiert, hat bleihaltig die Nase vorn (87,5 % zu 81,6 %). Bei systematisch angelegten, fairen Praxistests ist eine weitere Steigerung der Stoppwirkung bleihaltiger Projektile zu erwarten.
Aus der Gremse/Rieger-Studie kann eine ausreichende Funktion der „Bleifreien“ abgeleitet werden. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die bessere Tötungswirkung bleihaltiger Geschosse wird in den „Empfehlungen“ und in der „Zusammenfassung“ unterschlagen.
2.) Labortest „Grenzleistung Zielballistik Jagd“

Der Beschuss ballistischer Seife gibt lediglich Auskunft über die Geschossleistung bei „weichen Treffern“ (waidwund, Schuss zwischen die Rippen, Muskelgewebe). In der Praxis häufig vorkommende Knochenkontakte (Blattschaufel, Rippen, Röhrenknochen) mit typischen Folgen, wie Geschoss-Separation, reduzierte Eindringtiefe und Ablenkung, lassen sich dadurch nicht simulieren.

 


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Ein Beispiel für die einseitige und mangelhafte Eignung des Gremse/ Rieger-Prüfverfahrens ist das gute Abschneiden der 8 x 57 IS TMR 12,7 Gramm (g) bei der GLJagd. Dem Oldie wird beste Wirkung bescheinigt.
Erst bei einer Schussentfernung von sagenhaften 230 m unterschreitet das Geschoss die Grenzgeschwindigkeit Jagd. Die Neigung des einfach aufgebauten Projektils, sich bei harten Treffern zu zerlegen, Wildbret mit Splittern zu verunreinigen und keinen Ausschuss zu liefern, bleibt unberücksichtigt. Neben sicherer Tötungswirkung ist geringe Wildbretentwertung ein wichtiges Argument für die Beurteilung von Jagdgeschossen. Der Laborversuch von Gremse/Rieger lässt diesen Faktor außen vor. So gehen zum Beispiel diesbezüglich unstrittige Vorteile von Deformationsgeschossen im Vergleich zu wirkungsstärkeren Teilzerlegern (Splitterabgabe) unter.
Eine Einführung des Prüfverfahrens bei der Munitionszulassung lässt eine Hinwendung der Industrie zu „Schreddergeschossen“ erwarten. Bei der geplanten Munitionsprüfung (Laborbeschuss) wird für jede Laborierung die Grenzgeschwindigkeit Jagd ermittelt. Dabei finden Messläufe Verwendung (Länge je nach Kaliber zwischen 60 und 65 cm). Im Jagdbetrieb haben sich in den vergangenen Jahren jedoch Rohrlängen zwischen 50 und 56 cm etabliert. Damit verbundene Leistungseinbußen reduzieren die Schussentfernung unter die durch die GVJagd implizierten Distanzen. Falsche Einschätzungen in der Praxis sind vorprogrammiert.
Die Absicherung der Laborversuche (GLJagd) durch Praxisergebnisse (Abschussberichte) ist für die empfohlene Munitionszulassung nicht vorgesehen. Eine derart einseitige Festlegung auf ein mit erheblichen Mängeln behaftetes Prüfverfahren fordert Fehlentscheidungen geradezu heraus.
3.) Vergleichende Analyse „Feldversuche – Labortest (GLJagd)“
Um die Eignung des Laborverfahrens zu prüfen, fand eine vergleichende Analyse mit 2 881 Abschussberichten aus den Feldversuchen statt. Dabei wurden nur zehn unterschiedliche Geschosskonstruktionen betrachtet (drei bleihaltig, sieben bleifrei).

 


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Differenziert nach dem Konstruktions-/ Wirkprinzip verteilen sich die Abschüsse auf 646 Deformationsgeschosse (22 %), 277 Solids (10 %), 1577 Teilzerleger (55 %) und 381 nicht gebondete Teilmantelprojektile (13 %). Die bewährten und verbreiteten Deformationsgeschosse sind deutlich unterrepräsentiert, eine bleihaltige Variante fehlt. Bei den Teilzerlegern wurden ebenfalls nur bleifreie Produkte betrachtet, diese stammen zudem von derselben Firma. Eine solch einseitige, geringe Stichprobe kann keinesfalls ein allgemeingültiges Munitionszulassungsverfahren legitimieren.

 


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Für die zehn aus den Feldversuchen herangezogenen Geschosse wurde die „Grenzgeschwindigkeit Jagd“ durch den Beschuss (Messläufe: 60 beziehungsweise 65 cm) ballistischer Seife ermittelt.
Vergleichend dazu berechneten Gremse/Rieger die Auftreffgeschwindigkeit der Projektile bei jedem der 2 881 Erlegungsvorgänge anhand der Munitions-Werksdaten und der Schussentfernung. Dadurch ließ sich für jeden Abschuss feststellen, ob die GLJagd erfüllt war oder nicht.
Entscheidender Fehler an der Berechnung ist die pauschaleVerwendung der Munitionswerksdaten. Zum einen sind diese Angaben oft geschönt, zum anderen werden sie aus den in der Praxis üblichen kürzeren Läufen selten erreicht (V0 – Verlust pro 5 cm Laufkürzung je nach Kaliber zwischen 3 und 10 %).
Somit ist bei der Vergleichsanalyse der Anteil an Abschüssen, die die GLJagd nicht erfüllt haben, höher. Nimmt man akzeptable Todesfluchten bis 40 m in Kauf, unterscheiden sich die Ergebnisse der Fluchtstreckenanalyse nur geringfügig.

 


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83,4 % der Stücke lagen bei erfüllter GLJagd im Entfernungsbereich von 0 – 40 m. Bei nicht erfüllter GLJagd verendeten 77 % innerhalb der 40-m-Distanz. Aus diesen fast identischen Ergebnissen die Allgemeingültigkeit der GLJagd abzuleiten, ist mehr als gewagt, zumal die Datenerhebung mit Mängeln behaftet ist.
4.) Die Studie als Entscheidungshilfe
Das Gremse/Rieger-Gutachten soll Politiker und Fachbehörden bei der Entscheidungsfindung unterstützen. Bei dieser Zielgruppe handelt es sich in den seltensten Fällen um Jäger oder ballistische Experten. Hohe Abschusszahlen und breit angelegte Feldstudien suggerieren solide, abgesicherte Ergebnisse. Dass dabei häufig Qualität durch Quantität ersetzt wurde, fällt einem Laien im „Dschungel der Zahlen und Fachbegriffe“ mit Sicherheit nicht auf.
Kommentar:

Das Gremse/Rieger-Gutachten bestätigt, was jeder Jäger, der mit einer Lapua Naturalis, Hornady GMX oder Brenneke TAG schon einmal Wild erlegt hat, weiß: Mit bleifreien Geschossen kann man tierschutzkonform jagen. Allerdings, und daran besteht kein Zweifel, sind Zinn, Kupfer und Kupferlegierungen (zum Beispiel: Messing, Tombak) nur das zweitbeste Material. Das im Vergleich zu Blei geringere spezifische Gewicht bedingt außenballistische Nachteile. Die schlechtere plastische Verformbarkeit kann zu zielballistischen Defiziten führen. Einschränkungen in der Jagdpraxis sind die Folge.
Ob wir in Zukunft mit der zweiten Garnitur jagen müssen, hängt hoffentlich nicht von Gremse/Rieger ab. Viel wichtigere Fragen, wie
• lebensmitteltoxische Wirkung bleihaltiger Geschosse (Wildbretkontamination durch Umwelt oder Geschoss – Vergleiche mit anderen im Freien lebenden Nutztieren)
• lebensmitteltoxische Unbedenklichkeit bleifreier Munition
• Gefährdung anderer Wildtiere durch bleihaltige Projektile über die Nahrungskette und gegebenenfalls effiziente alternative Vermeidungsstrategien (Verlochen vom Gescheide oder ähnliches)
• Boden- und Grundwasserkontamination durch bleihaltige/bleifreie Projektile, sind nach wie vor ungeklärt. Es gibt Gerüchte, Behauptungen und Vermutungen. Schlüssige Beweise stehen nach wie vor aus.
Uns Jägern bleibt nur die Hoffnung, dass diese zukünftigen Studien unparteiisch, sachkundig und gründlich durchgeführt werden und ideologiefreie Entscheidungen hervorbringen. Hilfreich wäre dabei ein deutliches Votum unserer Verbände und der Munitionsindustrie für die gleichberechtigte Nutzung bleihaltiger Projektile. Vorauseilender Gehorsam ist, bis zur Klärung der Sachlage, fehl am Platz.
Das von Gremse/Rieger als Zugabe mitgelieferte Laborverfahren „Grenzleistung Zielballistik Jagd“ ist für die Munitionszulassung überflüssig. Ungenau und nur Teilaspekte betrachtend wird der Test jagdpraktischen Ansprüchen nicht gerecht. Bisher hat der Markt die Qualitätsprüfung selbst geregelt. Was nichts taugt, wird nicht gekauft. Defizite werden über das Internet schnell kommuniziert, und die Kunden reagieren sofort. Das von Gremse/Rieger vorgeschlagene Zulassungsverfahren kostet Geld. Auf eine sinnlose Verteuerung der ohnehin schon hohen Munitionskosten können wir getrost verzichten. S/E

 

 

 

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