Eigentlich soll es nur eine Kontrollsuche werden. Doch dann verliert JÜRGEN ROSENKRANZ seinen Brandlbrackenrüden aus den Augen. Illustriert von Hans Lakomy.
Zum letzten Weihnachtsfest bekam ich ein Buch geschenkt, in dem der Autor über herausragende Schweißhundeführer und ihre Hunde berichtet. Zwangsläufig musste ich dabei an meinen außergewöhnlichen Nachsuchenhund „Basko“ denken, der mir vor einigen Jahren im Rahmen einer Nachsuche nicht alltägliche Aufregungen in den Hohen Tauern bescherte und an den ich besondere Erinnerungen habe.
Um es vorweg zu nehmen, es handelte sich bei diesem Hund um keinen „Schweißhundklassiker“, sondern um eine Brandlbracke, die zeitlebens auf mehreren hundert Nachsucheneinsätzen brillierte und nahezu unfehlbar war. Auch wenn es sich überheblich anhören mag, war der Rüde für mich ein Hund von Weltklasse. Gäbe es eine Weltmeisterschaft für Nachsuchen, so hätte ich mich mit ihm bedenkenlos nominieren lassen.
Ich habe in meinen 30 Jahren als Hundeführer etliche Schweiß- und Gebrauchshunde geführt. Viele waren in ihrer Arbeit gut und sehr gut, aber keiner so hervorragend am kranken Wild im Suchen, Finden, Hetzen und Stellen wie „Basko“. Aber genug der Lobeshymnen, kommen wir zum eigentlichen Nachsuchen erlebnis.
Geplant war ein einwöchiger Familienurlaub im Zillertal mit unseren Hunden, dem Brandlbrackenrüden „Basko“ und dem jungen Bayerischen Gebirgsschweißhund „Jacky“. Obwohl es mit einem Umweg verbunden war, beschlossen wir, vorher noch bei Bekannten im Salzburger Land vorbeizuschauen.
Am nächsten Morgen unseres Zwischenaufenthaltes saßen wir gemütlich bei der letzten Tasse Kaffee, als unsere Bekannte aufgeregt ins Frühstückszimmer kam und uns mitteilte, dass ihr Mann auf der Morgenpirsch einen Rehbock beschossen hatte. Da er sich seines Schusses nicht sicher war und den Bock auch nicht fand, bat er mich um eine Kontrollsuche. In Anbetracht der kurz bevorstehenden Weiterreise und der fehlenden Nachsuchenutensilien hielt sich die Begeisterung – insbesondere bei meiner Frau – in Grenzen. Ungeachtet dessen ließ ich mich breitschlagen, schlüpfte in meine Trekkingsachen, fertigte mir aus den beiden Führerleinen einen provisorischen Schweißriemen und fuhr mit „Basko“ ins 20 Kilometer entfernte Hochgebirgsrevier.
Der Schilderung des Schützen zufolge hatte er den Bock auf etwa 160 Meter an einem Wasserfall beschossen. Angeblich quittierte das Stück den Schuss mit einem leichten Einknicken. Mehr konnte mir der Schütze nicht sagen, da der Bock unmittelbar danach in eine angrenzende Erlendickung eingewechselt war. Mir blieb nichts anderes übrig, als aufzusteigen und den vermeintlichen Anschuss durch „Basko“ suchen zu lassen. Unter Hochgebirgsbedingungen gestaltete sich dieses Unterfangen allerdings schwieriger als gedacht.
Spätestens nach den ersten hundert Metern musste ich einsehen, dass die eigentliche Riemenarbeit unter diesen Gegebenheiten nicht weiter in Betracht kam. Daher entschloss ich mich, den Hund frei vorsuchen zu lassen. Es dauerte auch nicht lange, und er tauchte sichtlich interessiert am vermeintlichen Einwechsel ins Erlendickicht. Nach nur wenigen Augenblicken verließ ein Stück Rehwild vor dem fährtenlaut jagenden Hund die Deckung und flüchtete den Steilhang hinab, um nach circa 400 Metern ein großes Latschenfeld anzunehmen. Das Stück konnte ich auch ohne Fernglas als einen jungen, etwas überlauscherhohen Bock ansprechen. Eine Verletzung oder eine Anomalie in der Motorik waren für mich nicht erkennbar. Wahrscheinlich war er vorbeigeschossen worden. Vor dem Hintergrund, dass mein mittlerweile achtjähriger Rüde gesundes Wild bisher nur kurz anjagte, um dann zum Ausgangspunkt zurückzukehren, sah ich dem Ende der Kontrollsuche gelassen entgegen.
In der Nähe des Wasserfalls war der Bock beschossen worden. Dort verlor der Hundeführer seine Brandlbracke aus den Augen. |
Als der Rüde allerdings nach einer halben Stunde nicht zurückkehrte, war es mit meiner Gelassenheit vorbei. Wir legten an diese Stelle der Alm seine Hundedecke und beschlossen, die nähere Umgebung mit dem Fahrzeug abzusuchen. Nach zweistündiger, ergebnisloser Suche fanden wir uns wieder am Ausgangspunkt ein. Aber die Hundedecke war leer. Wo war „Basko“ abgeblieben? Ratlosigkeit und Sorge machten sich allmählich breit.
Nach Meinung unseres Bekannten hätten wir damit zu rechnen, dass, falls der Hund sich doch an der Decke einfand, er eventuell durch die auf der Alm weidenden Rinder attackiert werden könnte. Daher entschieden sich meine Frau und ich, an Ort und Stelle die kommende Nacht im Auto auf unseren Hund zu warten. Wir hatten kaum geschlafen und mussten am nächsten Morgen gerädert feststellen, dass sich die Alm in eine Winterlandschaft verwandelt hatte. In der Nacht hatte es zehn Zentimeter geschneit. Und das mitten im Hochsommer! Viel schlimmer als der unerwartete Schneefall war allerdings die Tatsache, dass von unserem Hund nach wie vor jede Spur fehlte.
Was nun folgte war eine mehrtägige, großangelegte Suchaktion mit allen Zweifeln und Hoffnungen, die ein jeder ersteht, dem sein treuer Jagdgefährte schon einmal abhanden kam. Beispielsweise erteilten wir selbstgefertigte Flugblätter in Polizeidienststellen, den Touristeninformationen, Poststellen, Tierheimen und zahlreichen Hotels. Darüber hinaus wurde auch die ortsansässige Jägerschaft um Mithilfe gebeten.
Durch Horrorgeschichten von auf Nachsucheneinsätzen im Hochgebirge zu Tode gekommenen Hunden wurden wir dazu angeregt, die im Jagdgebiet befindlichen Latschenfelder und Wasserfälle abzusuchen. Nichts! Unvergesslich bleibt mir jedoch in diesem Zusammenhang die Unterstützung eines Jägers namens Sepp, der uns als gestandener Hochgebirgler in dieser Zeit mit Rat und Tat in aufopferungsvoller und uneigennütziger Weise begleitete.
Nachdem es auch nach fünf Tagen intensiver Suche kein Lebenszeichen von „Basko“ gab, waren wir mit unserem Latein am Ende. Der erfolglose Suchenverlauf gepaart mit der ständigen Ungewissheit, ob der Hund noch am Leben war, wenn ja, wo und in welcher Verfassung, brachte uns an den Rand der Verzweiflung.
Der Hund schien unauffindbar zu sein. Und da wir meinten, nichts mehr ausrichten zu können, entschieden wir uns schweren Herzens, die Reise fortzusetzen und die verbleibenden drei Urlaubstage im Zillertal zu verleben. Doch dort angekommen, stellten wir schnell fest, dass es unter diesen Umständen unmöglich war, irgendwelche Urlaubsgefühle aufkommen zu lassen. Kurzum – wir verstauten unsere noch nicht ausgepackten Koffer und fuhren zurück.
Wieder im Salzburger Land angekommen, setzten wir unsere Suche fort. Leider ohne Erfolg. Die Nerven lagen mittlerweile blank. Sieben Tage waren seit dem Verschwinden „Baskos“ verstrichen. Am achten Tag, dem geplanten Heimreisetag, der zugleich mein Geburtstag war, wollten wir noch als letzte Möglichkeit eine Annonce in der Lokalpresse schalten.
Wir waren gerade beim Frühstück, die Geburtstagsstimmung war alles andere als fröhlich, als unser Bekannter ganz aufgeregt ins Zimmer kam und berichtete, dass ein Berufsjäger eine Brandlbracke in der Nähe seines Hofes gesichtet hatte. Neue Hoffnung keimte in uns auf, den geliebten und gleichermaßen wertvollen Hund doch noch zu finden. Stehenden Fußes setzten meine Frau und ich uns in Bewegung. Zufällig kannte ich den Jäger und seinen Hof in dem 25 Kilometer entfernten Nachbartal. Wir waren uns auf einer gemeinsamen Birkhahnjagd vor fünf Jahren begegnet.
Nach einer halben Stunde waren wir vor Ort und wurden bereits vom Berufsjäger erwartet. Dieser berichtete, dass seine Frau vor etwa einer Stunde beim Blumengießen im Garten eine Brandlbracke in der Nähe eines Heustadels, etwa 80 Meter vom Hof entfernt, gesehen hatte. Gemeinsam fuhren wir dorthin und riefen und pfiffen aus Leibeskräften nach dem Hund. Doch von „Basko“ keine Spur.
Kurz entschlossen entschieden wir uns, die Suche fortzusetzen. Es dauerte auch nicht lange, bis der Berufsjäger und ich auf eine Pilzsucherin trafen, die von einem Englischen Setter und einem schwarzen Labrador begleitet wurde. Sofort kamen in mir Zweifel auf, ob die Frau des Berufsjägers die Bracke nicht mit dem Labrador verwechselt haben könnte. Die angezweifelte Fachkompetenz seiner Ehefrau wies der Berufsjäger allerdings entschieden zurück.
Wir waren noch am Herumsinnieren, als meine Frau plötzlich rief: „Da ist er!“ Tatsächlich! Unter ihren Rufen kam er auf sie zu. Langsam, verunsichert, abgemagert. In einer unbeschreiblichen Wiedersehensfreude schlossen wir ihn in unsere Arme. Nach acht Tagen hatten wir unseren Hund wieder. Lediglich beim jungen Schweißhund hielt sich die Begeisterung ür seinen Zwingergenossen in Grenzen. Zu sehr hatte er es wohl in den vergangenen Tagen genossen, im Mittelpunkt zu stehen.
Was „Basko“ über den Gebirgskamm ins Nachbartal trieb, wird ein Rätsel bleiben |
Es ist zu schade, dass uns „Basko“ nichts über seine Odyssee berichten konnte. Insofern wird es ein ewiges Rätsel bleiben, warum er, wie sonst immer, auch nach langen Hatzen, nicht zum Ausgangspunkt zurückgekehrt war. Ebenso ungeklärt bleibt, was ihn in dieses Tal über den Gebirgskamm hinweg – es waren etwa 50 Kilometer Luftlinie vom Punkt des Schnallens – getrieben hatte.
Waren es der plötzliche Schneefall, das Hochgebirge an sich oder die für ihn ungewohnten Wildwittrungen von Gams und Murmel? Oder hat er sich jemandem angeschlossen? Fragen über Fragen. Für mich ist es noch heute unerklärlich, dass dieser ansonsten so un beirrbare Hund nicht zu mir zurückfand.
In meinen Augen wird diese Begebenheit in seiner Gesamtheit immer ein großes Wunder bleiben. Nicht nur, weil wir an unserem letzten Aufenthaltstag, meinem Geburtstag, wieder in den Besitz unseres Hundes gelangten, sondern auch das Glück hatten, dass eine erfahrene Jägersfrau „Basko“ für einen kurzen Augenblick sah und ihn ganz sicher als Brandlbracke identifiziert hatte.
Zwei Jahre später schloss sich der Kreis des Lebens für „Basko“. Er erkrankte an einem schweren Krebsleiden. Wieder war es August, wieder stand mein Geburtstag bevor.
Zwei Jahre später schloss sich der Kreis des Lebens für „Basko“. Er erkrankte an einem schweren Krebsleiden. Wieder war es August, wieder stand mein Geburtstag bevor.
Am Vorabend bedrückte mich ein eigenartiges Gefühl. Ich glaubte zu spüren, dass die Stunden für „Basko“ auf unserem Planeten gezählt sind. Aus dieser Ahnung heraus holte ich ihn ins Haus, sodass er dort seinen Lieblingsplatz in der Diele einnehmen konnte. Nach einer unruhigen Nacht musste ich am Morgen feststellen, dass er bereits in die ewigen Jagdgründe aufgebrochen war.