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JVG 410: Jagdpächter und Gemeinde haften

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I. Der Fall

Im Juni 2012 bog ein junger Marineof­fizier mit seinem Mountainbike in einen unbefestigten Feldweg ein. Nach rund 50 Metern befand sich eine Absper­rung. Diese bestand aus zwei quer über den Weg gespannten Stacheldrähten in 60 und 90 Zentimetern Höhe, an denen in der Mitte des Weges an zwei vertikalen Holzlatten ein Sperrschild für Kraftfahrzeuge (Zeichen 260) be­festigt war. Diese Absperrung war von den früheren Jagdpächtern mit Zustim­mung des damaligen Bürgermeisters errichtet worden, um eine Ruhezone für das Wild zu schaffen.

Der Biker erkannte das Sperrschild und glaubte zunächst, rechts und links daran vorbeifahren zu können, weil es nur für Kraftfahrzeuge galt. Als er aus wenigen Metern Entfernung die Drähte erkannte, machte er vergeblich eine Vollbremsung und stürzte kopfüber in die Drähte. Hierbei zog er sich einen Bruch des Halswirbels zu, der eine komplette Querschnittslähmung zur Folge hatte. Seitdem ist er dauerhaft hochgradig pflegebedürftig. Vor Ge­richt verlangte er von der Gemeinde und den Jagdpächtern ein Schmer­zensgeld in Höhe von 500.000 Euro sowie den Ersatz aller bisherigen und künftigen Schäden, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonsti­ge Dritte übergegangen sind. Die Bun­desrepublik Deutschland forderte den Ersatz der geleisteten Versorgungs­bezüge sowie der Behandlungs-­ und Heilungskosten in Höhe von rund 580.000 Euro sowie den Ersatz weite­rer und aller künftigen Schäden.

II. Das Urteil

1. Das Landgericht hat die Klagen in 1. Instanz abgewiesen, weil der Radler zu schnell gefahren sei. Das Oberlandes­gericht gab dem Biker in der Beru­fungsinstanz Recht, bejahte aber ein Mitverschulden in Höhe von 75 %, weil er nicht „auf Sicht“ gefahren sei und daher nicht mehr rechtzeitig habe anhalten können.

2. Der Bundesgerichtshof hob das Ur­teil auf und verpflichtete die Gemeinde und die Jagdpächter zu Schadensersatz und Schmerzensgeld. Grundlage der Haftung sei eine fahrlässige Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungs­pflicht. Diese besagt: Wer vorsätzlich oder fahrlässig eine Gefahrenlage schafft, muss im Rahmen des Notwen­digen und Zumutbaren dafür sorgen, dass andere dadurch nicht geschädigt werden. Ein quer über den Weg ge­spannter Stacheldraht stellt ein gefähr­liches Hindernis dar, das völlig unge­wöhnlich und nur schwer zu erkennen ist. Das Gericht wörtlich: „Es ist objek­tiv geradezu als tückisch anzusehen, sodass ein Fahrradfahrer hiermit nicht rechnen musste.“

Für diese Gefahrenquelle haften die Gemeinde als Trägerin der Straßenbau­last und die Jagdpächter, da sie die Ab­sperrung von den früheren Pächtern übernommen und weiterhin benutzt haben, um die Ruhezone für das Wild zu erhalten. Ein Mitverschulden des Bi­kers liege nicht darin, dass er zu schnell gefahren sei. Das Gebot, auf Sicht zu fahren, verlange nicht, dass sich der Fahrer auch auf solche Hindernisse ein­stellen müsse, die völlig ungewöhnlich und nur schwer zu erkennen seien und mit denen man nicht rechnen müsse.

Als ein Mitverschulden komme al­lein in Betracht, dass der Radler auf dem unbefestigten und unebenen Feld­weg Klickpedale benutzt habe, was aber allenfalls zu einem Mitverschul­den in Höhe von 25 % führen könne. Hierzu seien noch weitere Feststellun­gen notwendig, zu deren Klärung das Verfahren an das Berufungsgericht zu­rückverwiesen wurde.

Bundesgerichtshof, Urteile vom 23.4.2020 – III ZR 250/17 – und III ZR 251/17

III. Anmerkungen

1. Keine Gefahren schaffen

Ein schrecklicher Unfall, der das Leben eines jungen Menschen auf furchtbare Weise schlagartig für immer verändert hat. Auch wenn der ehemalige Bürger­meister und die Jagdpächter das nicht gewollt haben, schwere Schuld haben sie auf sich geladen. Denn es war vorher­sehbar, dass Radfahrer versuchen wür­den, rechts oder links an dem nur für Kraftfahrzeuge geltenden Sperrschild vorbeizufahren und dabei im Stachel­draht hängen bleiben. Mit einem solchen Hindernis musste kein Radler rechnen.

Wir Jäger haben nichts gegen Mountainbiker, solange sie die für sie bestimmten Wege benutzen. Aber wir freuen uns nicht über jene, die nach Be­lieben auf Pfaden, Wildwechseln oder gar kreuz und quer durch den Wald fahren und so das Wild in seinen Le­bensstätten stören. Zur Rede gestellt, berufen sie sich auf das allgemeine Betretungsrecht, werden oft aggressiv und wollen nicht akzeptieren, dass für sie grundsätzlich ein Wegegebot gilt. Spaziergänger und Radler haben inso­weit nicht die gleichen Rechte im Wald.

Aber gefährliche Hindernisse anzu­legen, um Störungen zu verhindern, ist absolut keine Lösung. Hiermit kann man alles verlieren, denn bei Verletzun­gen anderer haftet der Jäger zivilrecht­lich auf vollen Schadensersatz und Schmerzensgeld, strafrechtlich wird er zumindest wegen fahrlässiger Körper­verletzung bestraft.

2. Das Anhalte- und Anzeigerecht

Was aber kann man tun, um solche Stö­rungen zu unterbinden? Bei Fahrten im Wald außerhalb der erlaubten Wege oder auf eigenmächtig angelegten Pfa­den oder Wildwechseln kann natürlich Anzeige erstattet werden, wenn die Per­son bekannt ist. Das fällige Bußgeld ist jedoch häufig so gering, dass es nur sel­ten vor Wiederholungen schützen wird. Wesentlich wirksamer ist es, die Unter­lassung weiterer Störungen durch uner­laubtes Fahren im Revier zu verlangen. Hierzu ist der Biker durch eingeschrie­benen Brief aufzufordern, eine beige­fügte schriftliche Unterlassungserklä­rung zu unterschreiben und an den Jagdausübungsberechtigten zurückzu­senden, in der er mitteilt, dass er künftig keine weiteren Störungen durch Fahren außerhalb der erlaubten Wege begehen werde. Verweigert er dies oder sendet er die Erklärung nicht unterschrieben zurück, besteht Wiederholungsgefahr. Jetzt kann er auf Unterlassung künftiger Störungen verklagt werden. Das wird dann richtig teuer für ihn. Wer recht­ schutzversichert ist, sollte dies einem Anwalt übergeben.

Radfahren auf den vorgesehenen Wegen ist – auch im Wald – ausdrücklich erlaubt. Erst wenn Radfahrer die Wege verlassen, bieten sich dem Jäger juristische Möglichkeiten.
Foto: Bildagentur Schilling

3. Das Personenfeststellungsrecht

All das setzt natürlich voraus, dass die Person des Radlers bekannt ist. Hier liegt das eigentliche Problem, denn die Fahrer sind oft ortsfremd und durch ihren Helm verdeckt. In den meisten Bundesländern steht jedoch den Jagd­ schutzberechtigten, also den Jagd­ ausübungsberechtigten und bestätigten Jagdaufsehern, bei Verstößen gegen jagdrechtliche Vorschriften ein Anhal­te­- und Personenfeststellungsrecht zu (z. B. Art.42 BayJG, § 32 HessJG, § 29 LJG NJG, § 25 LJG NW u.a.). Ein solcher Verstoß gegen jagdrechtliche Vorschrif­ten liegt hier im Stören des Wildes in seinen Einständen, was eine Zuwider­handlung gegen § 19a BJagdG darstellt. Nach dieser Bestimmung ist es verbo­ten, Wild unbefugt an seinen Wohn-­ oder Zufluchtstätten durch Aufsuchen, Filmen „oder ähnliche Handlungen“ zu stören (Ordnungswidrigkeit nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 BJagdG).

Zu den „ähnlichen Handlungen“ gehört zum Beispiel auch das Beun­ruhigen durch Lärm oder ungenügend beaufsichtigte Hunde und damit auch durch überraschendes, schnelles und lautes Durchfahren der Wohn-­ und Zufluchtstätten des Wildes, sodass dieses erschrickt und sich nicht mehr sicher fühlt (vgl. Schuck, BJagdG, § 19a, Nr.11 und 13; Mitschke/Schäfer, BJagdG, § 19a, Nr.3; Thies/Müller- Schallenberg, Das Jagdrecht in NRW, § 19a).

Soweit die Theorie. In der Praxis werden viele Radler nicht anhalten, sondern am Jäger vorbeifahren, zumal dieser keinesfalls das Anhalten mit der Waffe erzwingen darf. Diese bleibt unbedingt entladen und geöffnet auf dem Rücken oder besser noch zu Hause, um sich zusätzlichen Ärger zu ersparen. Im Übrigen sollten sich alle Pächter gemeinsam an solchen Aktio­nen beteiligen, da ein einzelner ohne Hilfe von Polizei­ oder Forstbedienste­ten auf verlorenem Posten steht. Mit Verständnis ist kaum zu rechnen, der Reiz am Alleinsein in freier Natur, der Rausch der schnellen Abfahrt und das besondere Vergnügen verdrängen jede Einsicht. „Der Wald ist doch für alle da“, tönt es immer wieder.

III. Ergebnis

1. Wer eine Gefahr für andere schafft, muss dafür sorgen, dass dadurch nie­mand gefährdet oder geschädigt wird.

2. Radfahren im Wald und in der frei­en Landschaft ist grundsätzlich nur auf dafür vorgesehenen Wegen er­laubt.

3. Wer außerhalb dieser Wege fährt, begeht eine Ordnungswidrigkeit. Eine weitere kommt hinzu, wenn er durch die Wohn-­ oder Zufluchtstätten des Wildes fährt und dadurch das Wild stört.

4. Jagdausübungsberechtigte und bestätigte Jagdaufseher sind in der Regel berechtigt, Radler auf störenden Fahrten anzuhalten, ihre Personalien festzustellen und sie anzuzeigen.

5. Auch die Verpächter sind betroffen, da sie die „ungehinderte und unge­störte“ Ausübung der Jagd schulden (Schuck, BJagdG, § 11 Nr.3; Mitzsch- ke/Schäfer, § 11 Nr. 55). Sinkt durch die Störungen der Jagdwert, kann der Pächter den Pachtpreis mindern.

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