I. Der Fall
Im Juni 2012 bog ein junger Marineoffizier mit seinem Mountainbike in einen unbefestigten Feldweg ein. Nach rund 50 Metern befand sich eine Absperrung. Diese bestand aus zwei quer über den Weg gespannten Stacheldrähten in 60 und 90 Zentimetern Höhe, an denen in der Mitte des Weges an zwei vertikalen Holzlatten ein Sperrschild für Kraftfahrzeuge (Zeichen 260) befestigt war. Diese Absperrung war von den früheren Jagdpächtern mit Zustimmung des damaligen Bürgermeisters errichtet worden, um eine Ruhezone für das Wild zu schaffen.
Der Biker erkannte das Sperrschild und glaubte zunächst, rechts und links daran vorbeifahren zu können, weil es nur für Kraftfahrzeuge galt. Als er aus wenigen Metern Entfernung die Drähte erkannte, machte er vergeblich eine Vollbremsung und stürzte kopfüber in die Drähte. Hierbei zog er sich einen Bruch des Halswirbels zu, der eine komplette Querschnittslähmung zur Folge hatte. Seitdem ist er dauerhaft hochgradig pflegebedürftig. Vor Gericht verlangte er von der Gemeinde und den Jagdpächtern ein Schmerzensgeld in Höhe von 500.000 Euro sowie den Ersatz aller bisherigen und künftigen Schäden, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind. Die Bundesrepublik Deutschland forderte den Ersatz der geleisteten Versorgungsbezüge sowie der Behandlungs- und Heilungskosten in Höhe von rund 580.000 Euro sowie den Ersatz weiterer und aller künftigen Schäden.
II. Das Urteil
1. Das Landgericht hat die Klagen in 1. Instanz abgewiesen, weil der Radler zu schnell gefahren sei. Das Oberlandesgericht gab dem Biker in der Berufungsinstanz Recht, bejahte aber ein Mitverschulden in Höhe von 75 %, weil er nicht „auf Sicht“ gefahren sei und daher nicht mehr rechtzeitig habe anhalten können.
2. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf und verpflichtete die Gemeinde und die Jagdpächter zu Schadensersatz und Schmerzensgeld. Grundlage der Haftung sei eine fahrlässige Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht. Diese besagt: Wer vorsätzlich oder fahrlässig eine Gefahrenlage schafft, muss im Rahmen des Notwendigen und Zumutbaren dafür sorgen, dass andere dadurch nicht geschädigt werden. Ein quer über den Weg gespannter Stacheldraht stellt ein gefährliches Hindernis dar, das völlig ungewöhnlich und nur schwer zu erkennen ist. Das Gericht wörtlich: „Es ist objektiv geradezu als tückisch anzusehen, sodass ein Fahrradfahrer hiermit nicht rechnen musste.“
Für diese Gefahrenquelle haften die Gemeinde als Trägerin der Straßenbaulast und die Jagdpächter, da sie die Absperrung von den früheren Pächtern übernommen und weiterhin benutzt haben, um die Ruhezone für das Wild zu erhalten. Ein Mitverschulden des Bikers liege nicht darin, dass er zu schnell gefahren sei. Das Gebot, auf Sicht zu fahren, verlange nicht, dass sich der Fahrer auch auf solche Hindernisse einstellen müsse, die völlig ungewöhnlich und nur schwer zu erkennen seien und mit denen man nicht rechnen müsse.
Als ein Mitverschulden komme allein in Betracht, dass der Radler auf dem unbefestigten und unebenen Feldweg Klickpedale benutzt habe, was aber allenfalls zu einem Mitverschulden in Höhe von 25 % führen könne. Hierzu seien noch weitere Feststellungen notwendig, zu deren Klärung das Verfahren an das Berufungsgericht zurückverwiesen wurde.
Bundesgerichtshof, Urteile vom 23.4.2020 – III ZR 250/17 – und III ZR 251/17
III. Anmerkungen
1. Keine Gefahren schaffen
Ein schrecklicher Unfall, der das Leben eines jungen Menschen auf furchtbare Weise schlagartig für immer verändert hat. Auch wenn der ehemalige Bürgermeister und die Jagdpächter das nicht gewollt haben, schwere Schuld haben sie auf sich geladen. Denn es war vorhersehbar, dass Radfahrer versuchen würden, rechts oder links an dem nur für Kraftfahrzeuge geltenden Sperrschild vorbeizufahren und dabei im Stacheldraht hängen bleiben. Mit einem solchen Hindernis musste kein Radler rechnen.
Wir Jäger haben nichts gegen Mountainbiker, solange sie die für sie bestimmten Wege benutzen. Aber wir freuen uns nicht über jene, die nach Belieben auf Pfaden, Wildwechseln oder gar kreuz und quer durch den Wald fahren und so das Wild in seinen Lebensstätten stören. Zur Rede gestellt, berufen sie sich auf das allgemeine Betretungsrecht, werden oft aggressiv und wollen nicht akzeptieren, dass für sie grundsätzlich ein Wegegebot gilt. Spaziergänger und Radler haben insoweit nicht die gleichen Rechte im Wald.
Aber gefährliche Hindernisse anzulegen, um Störungen zu verhindern, ist absolut keine Lösung. Hiermit kann man alles verlieren, denn bei Verletzungen anderer haftet der Jäger zivilrechtlich auf vollen Schadensersatz und Schmerzensgeld, strafrechtlich wird er zumindest wegen fahrlässiger Körperverletzung bestraft.
2. Das Anhalte- und Anzeigerecht
Was aber kann man tun, um solche Störungen zu unterbinden? Bei Fahrten im Wald außerhalb der erlaubten Wege oder auf eigenmächtig angelegten Pfaden oder Wildwechseln kann natürlich Anzeige erstattet werden, wenn die Person bekannt ist. Das fällige Bußgeld ist jedoch häufig so gering, dass es nur selten vor Wiederholungen schützen wird. Wesentlich wirksamer ist es, die Unterlassung weiterer Störungen durch unerlaubtes Fahren im Revier zu verlangen. Hierzu ist der Biker durch eingeschriebenen Brief aufzufordern, eine beigefügte schriftliche Unterlassungserklärung zu unterschreiben und an den Jagdausübungsberechtigten zurückzusenden, in der er mitteilt, dass er künftig keine weiteren Störungen durch Fahren außerhalb der erlaubten Wege begehen werde. Verweigert er dies oder sendet er die Erklärung nicht unterschrieben zurück, besteht Wiederholungsgefahr. Jetzt kann er auf Unterlassung künftiger Störungen verklagt werden. Das wird dann richtig teuer für ihn. Wer recht schutzversichert ist, sollte dies einem Anwalt übergeben.
Radfahren auf den vorgesehenen Wegen ist – auch im Wald – ausdrücklich erlaubt. Erst wenn Radfahrer die Wege verlassen, bieten sich dem Jäger juristische Möglichkeiten.
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3. Das Personenfeststellungsrecht
All das setzt natürlich voraus, dass die Person des Radlers bekannt ist. Hier liegt das eigentliche Problem, denn die Fahrer sind oft ortsfremd und durch ihren Helm verdeckt. In den meisten Bundesländern steht jedoch den Jagd schutzberechtigten, also den Jagd ausübungsberechtigten und bestätigten Jagdaufsehern, bei Verstößen gegen jagdrechtliche Vorschriften ein Anhalte- und Personenfeststellungsrecht zu (z. B. Art.42 BayJG, § 32 HessJG, § 29 LJG NJG, § 25 LJG NW u.a.). Ein solcher Verstoß gegen jagdrechtliche Vorschriften liegt hier im Stören des Wildes in seinen Einständen, was eine Zuwiderhandlung gegen § 19a BJagdG darstellt. Nach dieser Bestimmung ist es verboten, Wild unbefugt an seinen Wohn- oder Zufluchtstätten durch Aufsuchen, Filmen „oder ähnliche Handlungen“ zu stören (Ordnungswidrigkeit nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 BJagdG).
Zu den „ähnlichen Handlungen“ gehört zum Beispiel auch das Beunruhigen durch Lärm oder ungenügend beaufsichtigte Hunde und damit auch durch überraschendes, schnelles und lautes Durchfahren der Wohn- und Zufluchtstätten des Wildes, sodass dieses erschrickt und sich nicht mehr sicher fühlt (vgl. Schuck, BJagdG, § 19a, Nr.11 und 13; Mitschke/Schäfer, BJagdG, § 19a, Nr.3; Thies/Müller- Schallenberg, Das Jagdrecht in NRW, § 19a).
Soweit die Theorie. In der Praxis werden viele Radler nicht anhalten, sondern am Jäger vorbeifahren, zumal dieser keinesfalls das Anhalten mit der Waffe erzwingen darf. Diese bleibt unbedingt entladen und geöffnet auf dem Rücken oder besser noch zu Hause, um sich zusätzlichen Ärger zu ersparen. Im Übrigen sollten sich alle Pächter gemeinsam an solchen Aktionen beteiligen, da ein einzelner ohne Hilfe von Polizei oder Forstbediensteten auf verlorenem Posten steht. Mit Verständnis ist kaum zu rechnen, der Reiz am Alleinsein in freier Natur, der Rausch der schnellen Abfahrt und das besondere Vergnügen verdrängen jede Einsicht. „Der Wald ist doch für alle da“, tönt es immer wieder.
III. Ergebnis
1. Wer eine Gefahr für andere schafft, muss dafür sorgen, dass dadurch niemand gefährdet oder geschädigt wird.
2. Radfahren im Wald und in der freien Landschaft ist grundsätzlich nur auf dafür vorgesehenen Wegen erlaubt.
3. Wer außerhalb dieser Wege fährt, begeht eine Ordnungswidrigkeit. Eine weitere kommt hinzu, wenn er durch die Wohn- oder Zufluchtstätten des Wildes fährt und dadurch das Wild stört.
4. Jagdausübungsberechtigte und bestätigte Jagdaufseher sind in der Regel berechtigt, Radler auf störenden Fahrten anzuhalten, ihre Personalien festzustellen und sie anzuzeigen.
5. Auch die Verpächter sind betroffen, da sie die „ungehinderte und ungestörte“ Ausübung der Jagd schulden (Schuck, BJagdG, § 11 Nr.3; Mitzsch- ke/Schäfer, § 11 Nr. 55). Sinkt durch die Störungen der Jagdwert, kann der Pächter den Pachtpreis mindern.