SCHALENWILD-GÜTEKLASSEN
Die Güteklassen müssen weg – so will es zumindest das Land Rheinland-Pfalz. Sinnvoll oder nicht? Dieser Frage geht der Wildbiologe Prof. Dr. Dr. Sven Herzog nach.
„Hege mit der Büchse“ und Wahlabschuss – Konzepte, die seit Jahrzehnten das Verständnis von Jagd und Hege bei vielen Jägern prägen. Auch die Güteklassen, die wir in Deutschland ausschließlich beim Schalenwild kennen, spielen bis heute eine bedeutende Rolle in diesem Zusammenhang. Sie werden allerdings in jüngerer Zeit zunehmend kontrovers diskutiert. Diese Diskussion betrifft die „Hege mit der Büchse“ ebenso wie den Wahlabschuss. Insbesondere die Orientierung an Merkmalen des Geweihs oder des Horns steht im Zentrum der Kritik. „Hege mit der Büchse“ resultiert aus der Vorstellung, dass das Erlegen einer hinreichenden Anzahl von Individuen sowie die bevorzugte Erlegung kranker beziehungsweise schwacher Stücke einen wichtigen Beitrag zu einer artgerechten Bejagung darstellt. In gewisser Hinsicht wird so die natürliche Auslese nachgeahmt. Der Wahlabschuss seinerseits verfolgt das Ziel, besonders vitale Stücke zu fördern und sich fortpflanzen zu lassen. Man geht also davon aus, dass die zugrunde liegenden Faktoren zum Teil genetisch bedingt sind. Während beim Kahlwild der gesamte körperliche Zustand, also vor allem Körpergröße, der Zeitpunkt des Verfärbens, offensichtliche Verletzungen oder Krankheitssymptome als Hinweise für die Vitalität dienen, kommt bei männlichen Stücken der Kopfschmuck als prominentes und für den Jäger augenfälliges Merkmal hinzu. Nun ist bekannt: Bestimmte Geweihmerkmale lassen durchaus auf den aktuellen Gesundheits- und Ernährungszustand schließen. Dabei scheint der Geweihmasse eine deutlichere Indikatorfunktion zuzukommen als etwa der Frage, wie viele Enden die Geweihstangen haben, wie die Stangen geperlt sind oder welche Farbe diese haben.
Letztere Merkmale sind eher aus menschlicher Sicht im Sinne eines ästhetischen Empfindens von Bedeutung. Gleichzeitig ist das Geweih insbesondere des Rothirsches von genetischen Faktoren abhängig. Diese betreffen sowohl die Geweihform als auch dessen Masse. Im Einzelfall ist allerdings immer schwer zu entscheiden, welche Konstellation von Faktoren zu einer ganz konkreten Geweihausformung führen: Genetik, Ernährung im Jahr des Geweihwachstums, Ernährung zu anderen Zeitpunkten, Parasitierung, Stress und weitere Kriterien können als Einflussfaktoren angenommen werden, welche individuell, aber auch artspezifisch unterschiedlich zusammenwirken. Wenngleich die meisten
Keine Kronen: Der Beihirsch wäre nach vielen Richtlinien abschusswürdig.
Untersuchungen dazu beim Rotwild erfolgten, treffen diese Aussagen auch für das Sikawild und vermutlich für das nahe verwandte Damwild zu.
Bei anderen Hirscharten, etwa dem Rehwild, kann sich das anders darstellen. So findet sich für das Rehwild eine deut liche Abhängigkeit des Geweihgewichtes von der Umwelt-, insbesondere von der Ernährungssituation, während genetische Faktoren bei dem kleinen Trughirsch zumindest in Bezug auf die Geweihmasse tendenziell in den Hintergrund treten. Andererseits weist die Geweihform durchaus auch beim Rehwild eine deutliche erbliche Komponente auf. Desweiteren gibt es Hinweise, dass der Reproduktionserfolg beim Rothirsch von der Geweihgröße abhängig ist. Hirsche mit hohem Geweihgewicht (vermutlich eher mit größerer Stangenlänge) haben eine bessere Chance, ein Brunftrudel zu halten. Ob dies vor allem mit der Durchsetzungsfähigkeit gegenüber Rivalen zusammenhängt oder ob solche Hirsche eher von den weiblichen Individuen akzeptiert werden, ist bisher nicht geklärt.
Damit stellt das Geweih des Rothirsches durchaus eine Möglichkeit der Orientierung für den Jäger beim Wahlabschuss dar. Mit einer konsequenten Strategie im Sinne eines Wahlabschusses kann man, zum Beispiel hinsichtlich der mittleren Geweihgewichte, langfristig viel erreichen. Die Er folge intensiver Hegebemühungen in der Nachkriegszeit haben dies vielerorts gezeigt. Für das Rehwild gilt das, aufgrund der größeren Auswirkungen von Umweltfaktoren im Vergleich mit den genetischen Einflüssen, längst nicht in diesem Ausmaß. Ein weiterer Aspekt, welcher den Wahlabschuss und Güteklassen beim männ lichen Rotwild nach Geweihkriterien in einem eher positiven Licht erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass die Geweihentwicklung bei Hirschen vergleichsweise spät kulminiert. Werden diese bevorzugt zu dem Zeitpunkt erlegt, da sie in der Natur ihr stärkstes Geweih tragen, so kommt das auch einer biologisch angemessenen Altersstruktur zugute. Das Konzept des Wahlabschusses beim Rotwild scheint also zunächst durchaus positiv zu sein. Woher kommt dennoch die Kritik? Mit „wildbiologischer Brille“ betrachtet, stellt sich die Frage: An welcher Stelle können wir mit der Strategie eines Abschusses nach Güteklassen beim Rothirsch Fehler machen?
Nachdem ein nicht unerheblicher Anteil der Masse und Form des Hirschgeweihes genetisch mitbestimmt ist, bedeutet jeder jagdliche Eingriff, der sich an Geweihmerkmalen orientiert, auch eine Selektion. Das heißt, bestimmte genetische Typen in der Population werden gefördert oder eben nicht. Dies ist nach traditionellem Ansatz, der die Geweihmasse und -form als ein wichtiges Hegeziel definiert, durchaus beabsichtigt. Ob das allerdings in allen Fällen biologisch sinnvoll ist, darf bezweifelt werden. So kennen wir den körperlich leichtgewichtigen Berghirsch, der an die Situation im Hochgebirge gut angepasst ist und oft ein schwaches Sechser-, Achter- oder Zehnergeweih trägt. Bei diesem würden die klassischen Auslesekriterien versagen, während sie beim Flachlandhirsch in einem optimalen Lebensraum vermutlich durchaus den natürlichen Kriterien nahekommen. Des Weiteren gibt es Hinweise, dass ein Eingriff bei den Rotspießern, der nach dem Kriterium „Spießlänge“ erfolgt, bereits einen genetisch selektiven Einfluss haben kann. Ob und wie dieser sich auf die Population auswirkt, wissen wir nicht.
Wir wissen allerdings seit den 1970er- und 1980er-Jahren vergleichsweise viel über die genetischen Strukturen unserer Wildarten und deren Bedeutung für die langfristige Arterhaltung. Wir wissen, dass genetische Vielfalt eine wichtige Voraussetzung für das langfristige Überleben einer Art darstellt. Wir wissen, dass genetische Vielfalt hinreichend großer Bestände bedarf und in kleinsten Restvorkommen nicht hinreichend vorhanden ist. Wir wissen auch, dass gerade aufgrund der Verinselung unserer mitteleuropäischen Rotwildpopulation dem genetischen Austausch zwischen Rotwildvorkommen eine große Bedeutung zukommt und dass kleinste Rotwildbestände von einigen Individuen langfristig in ihrer Anpassungsfähigkeit und damit in ihrer Existenz bedroht sind.
Diese Untersuchungen sprechen zunächst einmal nicht gegen Güteklassen beim Rotwild. Sie sprechen allerdings gegen eine zu intensive, einseitige Auslese, welche ganz bestimmte Geweihmerkmale gezielt bevorzugt. Und zwar deshalb, weil dadurch die Gefahr eines unbeabsichtigten Verlustes an Eigenschaften besteht, welche zufällig mit unerwünschten Merkmalen räumlich auf dem Molekül der Erbsubstanz (DNS) zusammenhängen. Da die entsprechenden Auslesekriterien beim Kahlwild fehlen, dürfte das vor allem in kleinen und kleinsten Teil populationen problematisch sein, in denen jedes erlegte Stück einen beachtlichen Teil des Bestandes ausmacht. Allerdings haben diese isolierten Kleinstvorkommen von kaum über zwanzig oder dreißig Individuen ganz andere Probleme: Aus genetischen und Artenschutzerwägungen sollte in vielen Fällen über einen gewissen Zeitraum hinweg gar nicht jagdlich eingegriffen werden, um den Bestand zunächst wieder anwachsen zu lassen. Es gab und gibt durchaus Bejagungsregelungen, welche die Erkenntnisse aus den vergangenen vierzig Jahren Rotwildgenetik mit dem Konzept eines Wahlabschusses verbinden. So könnte beispielsweise eine Schonung aller Hirsche zwischen dem dritten oder vierten und dem achten, neunten oder auch zehnten Kopf dafür sorgen, dass auch alle männlichen Individuen die Chance haben, an der Reproduktion beteiligt zu sein, während sonst so mancher etwa als IIb-Hirsch bevorzugt erlegt würde. Un-terhalb dieser Altersgrenze könnte großzügig im Sinne von „Zahl vor Wahl“ und oberhalb in Form eines klassischen Wahlabschusses und nach Güteklassen in die Population eingegriffen werden.
Blicken wir auf das Rehwild, so geben uns Geweihmerkmale eher einen Hinweis auf eine aktuelle, etwa durch Äsungsverfügbarkeit und Konkurrenz (Wilddichte) bestimmte Situation. Damit ist der Hauptschmuck durchaus ein wichtiger Indikator, der aber eine differenzierte Einteilung in Güteklassen nicht wirklich benötigt.
Interessanter ist das Muffelwild, und zwar aus zwei Gründen. So ist es einerseits beim Mufflon so, dass die jagdliche Auslese nach der Form und der Wachstumsrichtung der Schnecken durchaus eine tierschutzrelevante Seite hat. Einwachser sind beispielsweise bevorzugt zu erlegen. Diesem Aspekt der Waidgerechtigkeit steht andererseits die Frage des Wahlabschusses gegenüber: Ist es beim Mufflon sinnvoll, Widder mit gutem Hornwachstum zu fördern und alt werden zu lassen? Möglicherweise ist genau dies ein fataler Fehler. Das gefürchtete Auswachsen der Schalen beim Muffelwild ist vermutlich durch einen Komplex unterschiedlicher Ursachen bedingt, in dem etwa der Standort (Bodenverhältnisse) oder bakterielle Infektionen eine erhebliche Rolle zu spielen scheinen. Es ist allerdings keineswegs unwahrscheinlich, dass gerade die intensive jagdliche Auslese bei dieser Art das Phänomen des Schalenauswachsens begünstigt hat. Weniger Hornwachstum an den Schnecken bedeutet vermutlich auch weniger Hornwachstum an den Schalen. Für diese Hypothese spricht beim Muffelwild die Tatsache, dass bei kaum einer anderen Wildart schon in so jungem Alter das Hornwachstum der Widderlämmer beurteilt werden und dementsprechend in den Bestand eingegriffen werden kann. Dagegen spricht wiederum die Tatsache, dass bei den Schafen diese Art der Auslese nicht greift, es sei denn, man hätte gezielt gehörnte Schafe begünstigt. Halten wir als Fazit fest: Das Konzept der Güteklassen ist vor allem beim Rotwild keineswegs völlig überholt, wie uns das mancher glauben machen möchte. Allerdings müssen wir neue Erkenntnisse, insbesondere aus der Genetik, in das System integrieren. Güteklassen und Wahlabschuss können durchaus eine Hilfe beim Erreichen und der Erhaltung eines gesunden Wildbestandes sein. Dort haben sie, richtig eingesetzt, auch heute ihre Bedeutung. Sie dürfen allerdings keinesfalls zum Selbstzweck werden und sich in einer kleinlichen Endenzählerei erschöpfen.