„Elegante Erscheinung, zierlich, perfekte Maße, Idealgewicht…“ – Kontaktanzeige? Nein, zumindest nicht im eigentlichen Sinne, denn bei der „Kesslerin“ handelt es sich um einen modifizierten und superleichten 98er.
Der 98er Umbau von Waffen-Kessler wirkt sehr elegant. |
Von Michael Schmid
Ein zufälliger Blick, den Kopf verdreht und schon ist man Feuer und Flamme. Welcher Waffenliebhaber kennt sie nicht, die Qualen und die Freuden des Jägers beim Anblick seiner Traumwaffe. So ging es auch mir, als ich im vergangenen Januar auf einem klapprigen Traktor-Anhänger, der uns Schützen auf die Drückjagdstände verfrachten sollte, Platz nahm. Mir gegenüber saß ein gespannt in den verschneiten Wald spekulierender, graubärtiger Jäger. Sofort fiel mir seine elegante Repetierbüchse auf. Ganz offensichtlich ein 98er, wie meine Waffe auch. Aber das, was ich in den Händen hielt, sah um Welten klobiger und schwerer aus als das Gewehr meines Gegenübers.
Eine „Kesslerin“ erfuhr ich nach spannender und erfolgreicher Drückjagd beim anschließenden Schüsseltreiben. Es hatten sich die Richtigen gefunden – mit Eifer wurden die Jagderlebnisse des Tages diskutiert und immer wieder landeten wir beim Thema Nummer Eins: Jagdwaffen. Der Graubart wurde nicht müde, mir die Vorzüge seiner leichten, im niederbayerischen Deggendorf gefertigten Büchse zu schildern. Seine heutige, mit zwei Meisterschüssen erzielte Jagdstrecke tat ein Übriges, mein Interesse an der schlanken Schönheit zu wecken.
Ein ausführliches Telefongespräch mit Meister Kessler, und pünktlich zum Aufgang der Bockjagd hielt ich eine Testwaffe in den Händen: Formschöner, fein gemaserter Nussbaumholz-Halbschaft mit Rosenholzabschlüssen, doppelt gefalzte Bayerische Backe, leichter Schweinsrücken, handgeschnittene Fischhaut und ein optimal auf meine Körpergröße abgestimmtes Schaftmaß. Das altbekannte 98er-System, dickwandiger Lauf im Kaliber 8x57IS, Fluchtvisier und ein mit Spezial-Schwenkmontage befestigtes Swarovski 2,5-10×42 Zielfernrohr – die Details der Testwaffe auf einen Blick.
Die elegante Linienführung und ein auffällig geringes Gewicht runden den ersten Gesamteindruck ab. Gerade einmal 2,85 Kilogramm bringt die „Kesslerin“ netto auf die Waage. Keine Frage, die Waffe kämpft in der von Kipplaufbüchsen dominierten Fliegengewichtsklasse. Aber auch mit Zieloptik sind keine überflüssigen Pfunde zu beklagen, bei knappen 3,45 Kilogramm pendelt sich hier die Waage ein.
Nimm Drei
Stellt man sich das fünfschüssige, etwas klobige und auf den Militäreinsatz ausgelegte 98er-System vor, muss man solche Werte eigentlich ins Reich der Fabeln verweisen – richtig, aber nur wenn es auch fünfschüssig bleibt.
Die Kesslersche „Büchsendiät“ beginnt genau an diesem Punkt. Das fest eingebaute Kastenmagazin wird verkürzt, zur Materialreduktion mit rechteckigen Fenstern mehrfach durchbrochen und so auf eine für jagdliche Ansprüche immer noch ausreichende Kapazität von drei Patronen reduziert. Durch diese Maßnahmen verringern sich die Bauhöhe im kompletten Vorderschaftbereich und natürlich das Waffengewicht.
Einziges Problem: Ein auf die genormte, fünfschüssige Version ausgelegter Serien-Abzug ist im Schaft nicht mehr unterzubringen. Erst mit einer weiteren Entwicklung aus dem Hause Kessler konnte auch diese Hürde genommen werden. Der patentierte, ruckfreie Direktabzug ist einfach aufgebaut und mit seiner geringen Bauhöhe speziell auf die Maße abgestimmt. Bei Übergewicht zwickt es meistens in der Mitte, kein Problem für die Schlanke aus Deggendorf. Der stark dimensionierte Hülsenkopf des 98ers wurde um gut drei Millimeter reduziert, die verbleibende Wandstärke ist für Gasdrücke von Standard-Patronen immer noch absolut ausreichend. Pluspunkte bei der Figur und eine weitere Gewichtseinsparung sind die Folge.
So alt und immer noch aktuell: Der 98er ist ein Dauerbrenner, vergleicht man ihn mit anderen, meist deutlich kurzlebigeren Waffenentwicklungen der letzten Jahre. Roland Kessler greift ganz bewusst auf dieses millionenfach bewährte und robuste Militär-System zurück. Die hohe Qualität der 1908er DWM-Fertigung und die einfache und zuverlässige Konstruktion sind für die Verwendung bei der „Kesslerin“ ausschlaggebend.
Handwerklich perfekt überarbeitet präsentieren sich Kammer und Hülse des aus nummerngleichen Teilen gefertigten Systems der Testwaffe. Ein Sonnenschliff auf Auszieher und Schlosshalter und ein abgeflachter, elegant gebogener und tropfenförmig auslaufender Kammerstängel verleihen der Waffe eine ansprechende optische Note.
Der Repetiervorgang geht leicht von der Hand und gestaltet sich erstaunlich weich für einen 98er. Die charakteristische Flügelsicherung des Originals wurde bei der Testwaffe durch eine im 60-Grad-Winkel zu bedienende und direkt auf die Schlagbolzenmutter wirkende Zwei-Stellungs-Sicherung ersetzt.
Beim Entsichern ist der sehr dicht am Zielfernrohr anliegende Sicherungsflügel allerdings etwas gewöhnungsbedürftig. Als Option bietet die Firma Kessler ein flaches Schlösschen mit horizontaler Drei-Stufen-Sicherung an. Diese Version bietet ein deutliches Plus an Sicherheit, da im Zustand „Ladesicherung“ der Kammerstängel geöffnet und die Waffe sicher ge- und entladen werden kann.
Beide Sicherungen lassen sich komfortabel und leise bedienen, ihre technische Bauweise erlaubt zudem eine niedrige Montage der Zieloptik. Das fest eingebaute Magazin wird von oben beschickt, ein Klappdeckel in traditioneller Mauser-Ausführung mit Entriegelungsknopf im Abzugsbügel ermöglicht das schnelle Entladen.
Zuständig für Präzision und Schussleistung der „Kesslerin“ ist ein 55 Zentimeter langer Lauf aus hochlegiertem Gewehrlaufstahl. In Verbindung mit dem sorgfältig in Kunststoff gebetteten System sorgt der ab dem Hülsenkopf freischwingende und in den Kalibern von .22-250 Remington bis 8x57IS (weitere Standardkaliber auf Wunsch) angebotene Lauf für überzeugende Schussbilder.
Streukreise von 22 bis 30 Millimetern lieferte die Testwaffe in 8×57 IS zuverlässig und vor allem wiederholbar auf die 100 Meter entfernte Scheibe. Der mit knapp 600 Gramm voreingestellte, absolut trocken stehende Direktabzug trägt einen wesentlichen Teil dazu bei, dass die präzise Schussleistung auch in der Praxis umgesetzt werden kann. Die Charakteristik erlaubt sowohl den punktgenauen Weitschuss als auch die schnell hingeworfene, sichere Kugel.
Wer die Büchse jedoch überwiegend auf winterlichen Drückjagden führen will, sollte aus Sicherheitsgründen ein etwas höheres Abzugsgewicht – justierbar von etwa 400 bis 1500 Gramm – wählen. Insgesamt erwies sich die von Roland Kessler gewählte Lauflänge als vernünftiger Kompromiss aus den Ansprüchen an Schussleistung, Führigkeit und geringem Mündungsfeuer.
Das Warmschussverhalten der „Kesslerin“ ist ausgezeichnet, die Einschläge liegen auch nach dem fünften Schuss in Folge zuverlässig im Zentrum. Das wird auch durch die überdurchschnittlich starke Laufwandung erreicht – hier sind die Pfunde gut platziert. Das Swarovski 2,5-10×42 besticht sowohl auf dem Schießstand als auch auf der Jagd durch eine brillante Bildwiedergabe.
Seine schlanke Bauweise und sein geringes Gewicht fügen sich ebenfalls harmonisch in die Gesamterscheinung der Waffe ein. Mit der ausschließlich für die „Kesslerin“ gefertigten Schwenkmontage lässt sich die Zieloptik extrem niedrig montieren. Bei dem mit Ringen aufgebrachten Swarovski weichen die Visierlinie des Fluchtvisiers und die Absehenmitte gerade einmal 1,5 Zentimeter in der Höhe voneinander ab. Diese geringe Differenz der beiden Visierlinien lässt sich im Anschlag mit der ausgewogenen Schäftung problemlos ausgleichen.
Ein weiteres Plus ist die Annäherung von Laufseelenachse und Zielfernrohr-Visierlinie. Durch den minimalen Abstand bei der Testwaffe von nur 4,5 Zentimetern lässt sich die GEE (Günstige Einschieß-Entfernung) geringfügig erhöhen. Verriegelt wird die Montage mit einer Drehring-gesteuerten Kippnase – die Wechselpräzision ist zuverlässig. Um eine dauerhafte Treffpunktlage und ausreichende Stabilität im Jagdeinsatz zu erreichen, ist die Montage aus dem vollen Material gearbeitet. Auf einen häufig zu ungewollter Verstellung neigenden Support wurde verzichtet – handwerkliche Präzision bei der Montage macht’s möglich.
Ein kontrastreiches Fluchtvisier sorgt dafür, dass auch „oben ohne“ nichts daneben geht. Das V-förmig geöffnete Visierblatt mit Rundkimme und das kräftige leuchtrote Balkenkorn erlauben eine schnelle Zielerfassung, optimalen Überblick und präzise Schüsse auf kurze bis mittlere Entfernungen.
Die „Kesslerin“ hat sich als vielseitige Waffe bewährt. Auf Pirsch, Bewegungsjagd und im Gebirge besticht sie durch ihr geringes Gewicht und ihre führige Gesamtlänge von knapp 108 Zentimetern.
Mit drei Patronen im Magazin und einer im Lauf ist man jeder jagdlichen Situation gewachsen. Sollte das Füllhorn Dianas wirklich einmal übervoll sein und vier Schüsse in Folge erlauben, kein Problem, die Waffe schießt sich trotz ihres geringen Gewichtes butterweich. Die Schäftung und eine niedrige Zielfernrohrmontage minimieren die Rückstoßbelastung und verhindern Blutergüsse im Schulterbereich.
Die Balance der Büchse, vor allem beim Schuss über die offene Visierung, kann sich problemlos mit so mancher Flinte messen. Als Ansitzwaffe in Verbindung mit dem Swarovski 2,5-10×42 bietet die „Kesslerin“ Führigkeit und Feuerkapazität bei ausreichender Lichtstärke. Eine handwerklich perfekte Verarbeitung garantiert Stabilität und ausreichenden Schutz gegen Korrosion und Verschmutzung. Fest verankerte Riemenbügel – der vordere ist mit einem Ring am Lauf befestigt – gewährleisten einen sicheren Transport.
Wer abseits industrieller Massenware auf der Suche nach einer individuellen, handwerklich gefertigten Jagdbüchse ist, liegt mit einer „Kesslerin“ goldrichtig. Ein Höchstmaß an Eleganz und Führigkeit, verbunden mit den bewährten Vorteilen des 98er-Systems ergeben einen praxisorientierten Repetierer und ein optisches „Schmankerl“ aus den klassischen Werkstoffen Holz und Stahl.
Der angemessene Preis ab 4850 Mark plus 850 Mark für die Spezial-Schwenkmontage inklusive Montieren und Einschießen sowie eine an persönlichen Kundenwünschen orientierte Fertigung runden die Deggendorfer Traumwaffe ab.
Bezug bei
Waffen Kessler
Land-Au 6,
94469 Deggendorf
Telefon 09 91/28 48 42
Nur der von Kessler selbst konstruierte Abzug lässt sich im Schaft unterbringen. Nach dem Rausdrehen der beiden Systemschrauben lässt scih die Waffe problemlos demontieren. |