JAGEN IM WILDTIERLAND
Im Südosten Mecklenburg-Vorpommerns liegt das Gut Klepelshagen. Die Bilder von tagaktiven guten Wildbeständen machen Jäger neugierig.
Heiko Hornung
Kraniche rufen unsichtbar im diesig grauen Nebelhimmel. Der Seeadler rudert mit schweren Schwingen über eine kleine Wasserfläche davon. Ich blicke dem großen Greif fasziniert nach, als mich Andreas Kinser zurückholt: „Dort am Dickungsrand steht Dein Sitz! Du hast rundherum Schussfeld, auf Treiber und Hunde achten – Waidmannsheil!“
Heute ist Jagd auf Gut Klepelshagen, das die Deutsche Wildtier Stiftung (DeWiSt) bewirtschaftet. Die Vision hier ist, einen Ausgleich zwischen den Ansprüchen von Wildtieren und Menschen zu schaffen. Das geht nur, wenn nicht jeder Quadratmeter Land auf Euro und Cent gerechnet wird und Gewinn abwerfen muss. „Waldbauliche, landwirtschaftliche und jagdliche Ziele werden mit denen des Naturschutzes und des Naturerlebnisses verknüpft“, heißt es in einer Selbstdarstellung der Stiftung. Bereits der erste Anblick lässt daran keinen Zweifel. Kinser ist Wildbiologe und bei der Stiftung angestellt. Heute ist er Ansteller. Rund 20 handverlesene Gäste sind der Einladung des Stifters Haymo G. Rethwisch gefolgt. Zusammen mit einheimischen Treibern und Jägern bilden sie die Jagdkorona dieses Tages.
Drei bis vier dieser kleinen Anrührjagden finden in der Jagdzone und der Intervalljagdzone pro Jahr statt. Noch bis 2007 waren es große Drückjagden mit Hundemeute und bis zu 60 Schützen, die das gesamte Waldgebiet des Gutes abkämmten. Davon hat sich die Stiftung verabschiedet. Insbesondere das Kahlwild war nach den Jagden lange verschwunden und stellte sich erst Ausgang des Winters wieder ein, berichtet der DeWiSt-Geschäftsführer und Jagdleiter Hilmar v. Münchhausen. Mit der Umstellung
verbesserte sich das Schussverhältnis, und das Rotwild, das die jagdliche Leitart darstellt, nahm diese Unruhe bei Weitem nicht so krumm. Das gesamte Kerngebiet Klepelshagens
ist hufeisenförmig von Wald umschlossen. Auf den offenen Flächen herrscht weitgehend Jagdruhe, damit sich das Rotwild dort sicher fühlt. In den Übergängen von den Einständen zu den Jagdruhebereichen gibt es sogenannte Intervalljagdzonen, die im Juni und Oktober
in zwei Phasen bejagt werden, um den Rotwildabschuss von 25 Stück zu erfüllen.
Bis die Drückjagden im Herbst beginnen, ist der Abschuss meist schon erledigt.
Auf 75 Prozent der Jagdfläche wird intensiv gejagt. Das sind Verjüngungsflächen
im Wald und Außenflächen in der Feldflur, auf denen Schäden entstehen. Auf dem Weg zum Stand komme ich an Buchenverjüngung vorüber, die deutlich verbissen ist. Trotzden verjünge sich die Buche auf der Fläche, sagen die Forstleute. Auch Edellaubhölzer, wie Ahorn, Esche und Ulme, kommen trotz hohen Wildbestandes hoch, nicht zuletzt wegen des
reichlich vorhandenen Prossholzes und den jagdruhigen Äsungsangeboten im Offenland.
Der Drückjagdbock steht am Rand einer Buchenverjüngung, in der ich schemenhaft hinter mir eine der zahlreichen Waldsöllen (kleine Teiche) dieser Endmoränenlandschaft
ausmachen kann. Vor mir eine verwachsene Wasserfläche mit ziemlich viel Totholz drumherum, das hier einfach stehen bleibt. Daneben ein Laubmischwald mit vielen kleinen Verjüngungshorsten und Altgras. Allein das gefiederte Leben dazwischen zu beobachten,
ist eine Freude. Da turnen Baumläufer, Kleiber, Schwarz- und Mittelspecht an den morschen Baumgerippen auf und ab. Während ich schaue, rauscht hinter mir verdeckt
und nur schwer auszumachen zwischen Wasserloch und Stand der erste Schwarzkittel durch die Buchenverjüngung. „Donnerwetter, hier muss man aufpassen“, denke ich mit Herzklopfen. Ein Hund lässt mich bald aufhorchen, dessen Laut auf mich zusteht. Zwei Rehe poltern vorüber, ohne mir die Chance zum Schuss zu geben. Rund 120 Stück werden hier pro Jahr erlegt. Ein ganzer Teil davon auf den kleinen Drückjagden. Links draußen kann ich durch den Waldrand eine kleine freie Anhöhe erkennen. Das Geläut der Hunde und wenige Treiberrufe dahinter lassen einen hinüberblicken. Ein schwarzer Klumpen, der
in großen Sätzen über das Feld geflüchtet kommt, beschleunigt meinen Puls merklich.
Im Glas erkenne ich einen guten Bassen. Er ist nicht frei. Rethwisch selbst träumt davon, auf Klepelshagen einmal reife Keiler zu erlegen, und das sind sie für ihn erst mit sieben bis acht Jahren. Die auf Drückjagden geschossenen sind meistens zu jung gestorben, meint er.
Überhaupt stört sich der 75-jährige Hamburger Unternehmer, der einen beträchtlichen
Teil seines Vermögens in die DeWiSt gesteckt hat – insgesamt über 50 Millionen Euro – an der Sauenverfolgung landauf, landab. Erntejagden mit einem wahllosen Abschuss sind ihm ein Gräuel. „Sauen sind für mich keine Schädlinge, und so sollten wir sie auch nicht behandeln“, sagt der Mann, dem 2011 der deutsche Stifterpreis verliehen wurde. Heute
sind Frischlinge und Überläufer bis 60 Kilogramm frei – eine gefährliche Größe, weil man sich schnell verschätzt. Wer darüber liegt, zahlt Strafe.
100 Stück werden über das Jahr auf Klepelshagen erlegt, in der Bejagungszone auch auf einigen Kirrungen und auf Schadflächen. Die einzige Ausnahme in Sachen Nachtjagd.
Wieder rauscht es im Rücken. Eine Rotte Sauen kommt bis an den Bestandsrand und verhofft minutenlang mucksmäuschenstill. Ein Windhauch aus meiner Richtung lässt sie umschlagen. Bald sind die Treiber und die ortskundigen Durchgeher, die unterm Jahr als Begeher auf dem Gut jagen, mit ihren kurz jagenden Hunden vorüber. Als sie schon eine
ganze Weile weitergezogen sind, wuselt etwas Braunes durch die Buchenkussel. Ist es der kleine Terrier von vorhin? In einer Lücke erkenne ich einen Frischling. Als er den Weg am Bestandsrand überfallen will, überschlägt er sich im Knall meiner Kugel. Der saubere Schuss freut mich. Die Verarbeitung des Frischlings in der Gourmet-Manufaktur der Stiftung, in der nicht nur die Weiderinder sondern auch das erlegte Wild landen, dürfte kein Problem sein.
Guter Dinge und voller Neugierde geht es nach einem Teller Suppe zum zweiten Treiben. Der Weg führt dabei vom Gut über die hügeligen Offenlandflächen in das Tal der Hirsche. Hunderten von Besuchern, die sich über die verwunschenen, mit lückigem Kopfsteinpflaster versehenen Straßen auf den Weg ins Wildtierland machten, beobachteten von einem geräumigen Pavillion hier während der Hirschtage die Rotwildbrunft. Insbesondere zur Feistzeit können von hier aus bis zu 100 Stück in Anblick kommen, erzählt Wildbiologe
Kinser. Die Rudel stehen während der Brunft auch tagsüber im Offenland. Heute, im diesigen Herbstwetter, wirkt die Kanzel eher wie die trostlose Tribüne eines leeren Stadions. Am Rand der offenen Fläche, zwischen einer mehrere hundert Meter langen Hecke, hohem Altgras, einem Wassergraben und einem Zaun liegt der Stand. Kaum hat sich mein Ansteller entfernt, machen die Könige des Tales mir auch schon ihre Aufwartung.
Vier Geweihte trollen am Zaun entlang ins Treiben. Was entgeht einem Menschen, der diesen Stolz und die Schönheit dieses Wildes noch nie richtig gesehen hat. Das Treiben ist entfernt im Gange, als ein Überläufer in aller Schnelle versucht, sich bei mir durchzustehlen. Im Schuss zeichnet die Sau deutlich. Während in mir der üble Zweifel keimt, ob jener noch in der 60-Kilo-Klasse liegt, gesellen sich ein Terrier und ein Drahthaar
zu mir. Nur kurz nehmen sie von mir Notiz und beginnen danach selbstständig, die lange Hecke auf den Kopf zu stellen. Was tobt die Jagd darin hin und her. Nach und nach hauen die beiden Tapferen über 30 Sauen aus dem Weißdorngestrüpp, die alle über die offene Fläche unbeschossen entkommen. Im Wildtierland hat das Wild eben noch eine Chance.