Welche Beutetiere bevorzugen Luchse, und wie groß ist ihr Einfluss auf Populationen von Reh-, Rot- und Gamswild? Vivienne Klimke wollte es genauer wissen.
Luchsin „Luna“ ist schon zum zweiten Mal knapp mit dem Leben davon gekommen. Beim ersten Mal im Herbst 2012 wurde das Jungtier im Schweizer Kanton Bern verwaist und abgekommen aufgefunden. Es wurde in einer Wildstation in Obhut genommen und aufgepäppelt. Dabei gewöhnte es sich aber offenbar nicht nur an die Menschen, sondern auch an deren Nahrung. Als „Luna“ im Frühsommer 2013 gemäß dem Luchskonzept Schweiz wieder ausgewildert wurde, hatte sie sich auf das Reißen von Schafen spezialisiert – und wurde wegen ihrer Schadensträchtigkeit postwendend zum Abschuss freigegeben.
Luchsinnen scheinen sich vor allem auf weibliches Rehwild zu spezialisieren Foto: Harald Grunwald
Zu ihrem Glück fand sich binnen einer Woche ein Tierpark, der sie aufnehmen würde, und so fing man „Luna“ im Juli an ihrem jüngsten Schafsriss ein und bugsierte sie zurück ins Gehege. Obwohl in der Schweiz zwischen 1996 und 2001 rund 775 Schafe vom Luchs gerissen wurden, ist „Luna“ ein fehlgeprägter Ausnahmefall. Denn normalerweise ernährt sich unsere größte Raubkatze bevorzugt von Rehwild, wenn davon ausreichend vorhanden ist. Das zeigt eine große Zahl an Studien, die international bereits zum Nahrungsverhalten des Luchses erstellt wurden. Urs Breitenmoser und Christine Breitenmoser-Würsten listen über 60 davon in ihrem Werk „Der Luchs“ auf. In fast jeder kommt das Rehwild als eine maßgebliche Beuteart vor, dicht gefolgt vom Feldhasen.
Detaillierte Forschung über dieses Thema wurde zum Beispiel in den Schweizer Alpen und im Jura durchgeführt, wo der Luchs bereits seit seiner Wiedereinbürgerung in den 1970er-Jahren heimisch ist. So stellte eine Forschergruppe um Anja Molinari-Jobin nach Untersuchungen aus den 1980er- und 90er- Jahren in fünf verschiedenen Regionen fest, dass sich die Raubkatze überall zu 90 Prozent von Reh und Gamswild ernährte. Der Rehwildanteil variierte dabei nach seinem Vorkommen – in Regionen, wo die kleinste wiederkäuende Schalenwildart nicht häufig war, betrug ihr Anteil an den Rissen auch nur 25 Prozent
Andere Länder, andere Beute: ein Birkhahn im Fang eines skandinavischen Luchses. Foto: Willi Rolfes
Die Gams erwies sich dann als bevorzugte Alternative. Im Nationalpark Bayerischer Wald, wo Luchse erst seit den 1990er-Jahren wieder vorkommen, forschen Kathrin Mayer und Dr. Marco Heurich zur Nahrungsökologie der Großraubkatze. Sie untersuchten das Beutespektrum von acht GPS-besenderten Luchsen zwischen 2006 und 2012. Die Risse fanden sie nach einer bewährten Methode, die auch in der Schweiz üblich ist und dort sogar mithilfe von Bayerischen Gebirgsschweißhunden betrieben wird: Blieb die Raubkatze zwei Nächte hintereinander an derselben Stelle, kontrollierten die Forscher diese am nächsten Tag auf Beutereste. 496 Risse und 130 Losungsfunde konnten so als Datengrundlage gewonnen werden. 82 Prozent der Risse waren Rehwild, knapp 14 stammten vom Hirsch. Gams kommen im Bayerischen Wald nicht vor.
Welchen Einfluss haben Luchse auf die Populationen der wiederkäuenden Schalenwildarten? Dieser Frage gingen die Schweizer Forscher anhand der Daten von 29 Luchsen aus den Jahren 1988 bis 1998 nach. Dabei stießen sie auf zwei interessante Erkenntnisse. Zum einen: Luchse haben tatsächlich einen maßgeblichen Einfluss auf die Populationsdynamik ihrer Beutetierarten, indem sie die Überlebensrate der fortpflanzungsfähigen erwachsenen Stücke verändern.
Luchse schneiden Rehwild meist zuerst an den Keulen an. Foto: Reiner Bernhardt
Immerhin eliminierten die Luchse der Schweizer Studie zufolge jährlich bis zu neun Prozent der Frühjahrspopulation der Rehe und elf Prozent von jener der Gams. Aber die Art des Einflusses hängt stark von der Populationsstruktur der Luchse ab. Es ist also nicht nur die Frage, wie viele Luchse in einem Gebiet jagen, sondern auch, welche.
Die Schweizer Wissenschaftler stellten fest, dass der „Verbrauch“ an Beutetieren je nach sozialem Status des Luchses zwischen knapp 59 bis über 79 Beutetieren pro Jahr variierte. Luchsfamilien schlugen grob gesagt alle fünf Tage zu, einzelne Luchsindividuen ungefähr alle sechs bis sieben Tage. Durchschnittlich fraßen die Katzen gut drei Kilogramm pro Tag, und sie verwerteten alle Wildteile bis auf die Verdauungsorgane. Diese nahmen sie nur bei Kitzen bis zum Alter von zwei Wochen an. Ein geschlagenes Beutetier hielt ungefähr drei Tage vor. Die restliche Zeit bis zum nächsten Riss verbrachten die Tiere mit Suche und Jagd.
Bisslöcher eines Luchses oberhalb der Drossel. Foto: LPB
Insgesamt war der Luchs für rund ein Drittel aller Mortalitätsfälle beim Rehwild zuständig und wurde nur von den Jägern übertroffen. Bei den Gämsen wurden dem Prädator sogar bis zu 75 Prozent der Todesfälle zugeschrieben. Hier stellten die Wissenschaftler aber die interessante Abhängigeit von der Populationsstruktur der Luchse fest: „Männliche Luchse schlugen mehr Gämsen als alle anderen“, so Anja Molinari-Jobin und Kollegen.
Jungluchse trauen sich diese Wildart offenbar gar nicht zu – das jedenfalls spiegeln die Daten. Umgekehrt formuliert, bedeutete das: „Ein Schwinden der reviertreuen männlichen Luchse reduzierte die getöteten Gams im Forschungsgebiet um ein Viertel im Vergleich zu vorher“, so Molinari. Deutliche geschlechts- und altersspezifische Unterschiede zeigten sich auch bei den anderen Beutetieren des Luchses. Die Luchskuder waren in der Schweiz auch für den Großteil der getöteten Rehböcke und -kitze verantwortlich. Die weiblichen Luchse und die Jungtiere schienen vor allem auf Rehgeißen spezialisiert zu sein. Im Bayerischen Wald waren die Luchskuder die Hauptprädatoren des Rotwildes:
Bei 123 Rissen von Kudern fanden sich zu 26 Prozent Alttiere oder Kälber. Bei 162 bestätigten Rissen weiblicher Luchse betrug der Anteil an Rotwild hingegen gerade mal vier Prozent – sie bevorzugten offenbar die leichtere und leichter zu schlagende Kost. Für das Rehwild in der gleichen Region bedeutete das: Bei einem Luchskuder machte es nur 67 Prozent des Beutespektrums aus, bei einer Luchsin dagegen 89 Prozent. Ulrike Maerkel von der Universität Tübingen untersuchte nun im Bayerischen Wald, von welchen Faktoren das Risiko eines Rehs abhängt, gerissen zu werden. Sie konnte dabei auf die Daten von 178 Rehen zurückgreifen, die zwischen 2004 und 2012 im Nationalpark Bayerischer Wald besendert wurden. 40 davon wurden vom Luchs geschlagen, die meisten während der ersten Nachthälfte. Tatsächlich erwies sich die Zeit um den Sonnenuntergang herum als die gefährlichste für das Beutetier. Je länger der Sonnenuntergang zurücklag, desto geringer war das Risiko. Rehe, die in der ersten halben Stunde nach Sonnenuntergang aktiv gewesen waren, wurden eher geschlagen als inaktive. Eine weitere Studie von Anja Molinari-Jobin im Schweizer Jura kam hier zu einem etwas anderen oder auch ergänzenden Ergebnis: Im Vergleich zwischen Reh und Gams fiel auf, dass Rehe häufig während der Phase des Wiederkäuens geschlagen wurden, die Gams dagegen nie. Sie traf es eher beim Äsen. Die Erklärung der Wissenschaftler dafür lautete, dass die Gämsen sich zum Wiederkäuen in steile, felsige Lagen zurückziehen, die als Jagdgebiet für den Luchs ungeeignet sind. Das Rehwild hingegen tut sich in der Dickung nieder, wo es zwar schwerer zu finden ist, selbst aber auch in seiner Sinneswahrnehmung behindert wird und den Feind womöglich zu spät bemerkt.