Die Natur ist konsequent, speziell wenn es um den Energie-Haushalt geht. Wie passt es dann zusammen, dass Rothirsche in der Brunft fast ein Viertel ihres Körpergewichtes verlieren? Auf diese 25 Prozent sind die Geweihten vorbereitet, doch es würde schlimmer kommen, wenn bei den Auseinandersetzungen zwischen den Kontrahenten kein Energie-Sparkurs liefe.
Zahlreich melden die Hirsche von den umliegenden Bergen, doch keiner scheint dem Rudel zu nahe zu kommen. Plötzlich steht ein Geweihter am Rande des Schlages, und ohne Ankündigung schieben sich Sekunden später zwei wie Bogensehnen gespannte Hirschkörper durch das Gewirr aus Sträuchern und Stämmen. Das Schieben und Kreisen geht kreuz und quer durch den Schlag, und nach wenigen Sekunden sind die Geweihe voll von Kraut- und Strauchresten. Allerorten weicht das Kahlwild den Kontrahenten. Der Neuankömmling scheint älter zu sein. Immer wieder wechseln die Positionen – der hangabwärts stehende Hirsch hat hierbei Vorteile, doch die Rollen wechseln ständig. Langsam scheint der Alte immer mehr die Oberhand zu gewinnen, und dann geht alles blitzschnell: Er drückt den hangabwärts stehenden Achtzehnender so mit dessen Hinterhand gegen einen vom Sturm geworfenen Fichtenstamm, dass dieser sich aus der Geweihbindung löst und mit einem Salto rückwärts auf der anderen Seite der Fichte landet. Blitzschnell rafft er sich auf, und ehe der Alte seinerseits über die Fichte hinwegsetzt, entschwindet der entthronte Platzhirsch ins dichte Gewirr der Sträucher. Wenige Sekunden später sehe ich ihn durch das lichte Altholz über den Kamm wechseln. Jedes Tier ist bemüht, Energie möglichst effizient einzusetzen und gefährlichen Tätigkeiten aus dem Weg zu gehen. Handlungen, die mit einem hohen Energieverbrauch und hoher Verletzungsgefahr verbunden sind, werden auf das Notwendigste reduziert oder unter ungünstigen Umständen vollständig unterbunden. Überall im Tierreich gehören Kämpfe in jeglicher Form in diese Kategorie. Da Hirsche in der Brunft ohnehin durch die Tätigkeiten des Herdens, Treibens und Beschlagens von Kahlwild extrem hohen Energieverlusten ausgesetzt sind, wären Kämpfe und mögliche Verletzungen eine zusätzliche Belastung. Gerade vor dem Winter können jedoch sowohl Energieverluste als auch mögliche Verletzungen tödliche Folgen haben.
Röhrduell: Die erste Kontaktaufnahme, noch bevor sich potenzielle Kontrahenten eräugen, erfolgt über ein akustisches Duell. Wenn auch keine wissenschaftlichen Untersuchungen dazu vorliegen, scheinen Hirsche jedoch oft schon anhand des Röhrens einen anderen Hirsch zumindest grob klassifizieren zu können. So kann häufig schon allein anhand der Lautäußerungen auf eine ebenfalls Energie kostende „Inaugenscheinnahme“ des Nebenbuhlers verzichtet werden.
Präsenz zeigen: Gibt das Röhren allein nicht genügend Informationen, ist optische Präsenz angesagt. Die Hirsche nehmen sich oft schon auf große Distanz wahr und können anhand von Körperstatur und Geweihauslage auch auf größere Entfernungen auf die Stärke schließen. Nun folgt die räumliche Annäherung, wobei zahlreiche Imponierhandlungen ablaufen können: Wimpelschlagen, Ausschachten der Brunftrute mit Harn- oder sogar Spermaspritzen. Oft werden diese Distanzhandlungen von weiterem Röhren begleitet.
Der Stechschritt: Beim sich anschließenden Imponiermarsch schreiten die Hirsche angespannt und steifläufig aufeinander zu, wobei sie das Haupt vollständig gerade halten und nicht hin und her schwenken. Marschieren sie dabei nicht frontal aufeinander zu, wirkt dies wie ein „Nichtbeachten“ oder „Aneinander-Vorbeiäugen“. Das „Nicht-in-die-Lichter-äugen“ gilt unter Säugern allgemein als entspannende Geste, die der Verminderung von Aggressionen dient. Das frontale „Sich-annähern“ der Gegner würde auf kurze Distanz unweigerlich den direkten Kampf auslösen!
Sobald ein Hirsch merkt, dass er unterlegen ist, versucht er, sich aus der Geweihbindung zu lösen, wendet blitzschnell und ergreift die Flucht. Der Sieger setzt ihm in der Regel kaum nach und röhrt anschließend siegesbewusst. Interessant ist, dass es vor der eigentlichen Geweihbindung während des Parallelmarsches seitens eines Hirsches zu weilen schon Kopfbewegungen in die Richtung des Gegners gibt, die auf eine gleich folgende Geweihbindung schließen lassen. Diese Bewegungen während des Parallelmarsches sind für das normale menschliche Auge kaum wahrnehmbar. Bützler belegte schon 1974 durch Filmaufnahmen, dass in den zahlreichen Fällen, in denen der andere Hirsch nicht auf diese Bewegungen reagierte, dieser „gelassenere Typ“ im an- schließenden Kampf auch stets Sieger blieb.
Interessant ist, dass das Geweih als Imponierorgan fast ausschließlich von dessen Länge und Auslage abhängt. Hirschen, denen man im Versuch die Enden vom Geweih entfernte, Länge und Auslage jedoch unverändert ließ, blieben in ihrer Rudelstellung unverändert. Erst bei einer Einkürzung der Geweihe oder einer Verringerung der Auslage litt die Stellung der Hirsche unter den Konkurrenten. Eigenartigerweise hat das Geweih zwar als Imponierorgan Bedeutung, kommt es zum Kampf, fällt ihm für dessen Ausgang nur eine untergeordnete Rolle zu.