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Energie-Sparkurs

Die Natur ist konsequent, speziell wenn es um den Energie-Haushalt geht. Wie passt es dann zusammen, dass Rothirsche in der Brunft fast ein Viertel ihres Körpergewichtes verlieren? Auf diese 25 Prozent sind die Geweihten vorbereitet, doch es würde schlimmer kommen, wenn bei den Auseinandersetzungen zwischen den Kontrahenten kein Energie-Sparkurs liefe.

Die ersten Sonnenstrahlen tauchen die Spitzen der Fichten in ein goldenes Licht. Knapp unterhalb des Bergkammes in einem dichten Gewirr aus Sturmholz, Wurzeltellern, Brom-, Himbeeren, Holunder und Ebereschen tobt die Brunft in vollem Gange: Ein ungerader Achtzehnender vom vielleicht achten Kopf mit gewaltigen Mittelsprossen ist hier Herrscher aller Reußen. Im dichten Gewirr der Beersträucher hat er alle Läufe voll zu tun, seinen Harem beisammen zu halten. Immer wieder setzt er über mächtige vom Sturm geworfene Fichtenstämme, um die Beihirsche ins Dunkel des Altholzes zu vertreiben.

Zahlreich melden die Hirsche von den umliegenden Bergen, doch keiner scheint dem Rudel zu nahe zu kommen. Plötzlich steht ein Geweihter am Rande des Schlages, und ohne Ankündigung schieben sich Sekunden später zwei wie Bogensehnen gespannte Hirschkörper durch das Gewirr aus Sträuchern und Stämmen. Das Schieben und Kreisen geht kreuz und quer durch den Schlag, und nach wenigen Sekunden sind die Geweihe voll von Kraut- und Strauchresten. Allerorten weicht das Kahlwild den Kontrahenten. Der Neuankömmling scheint älter zu sein. Immer wieder wechseln die Positionen – der hangabwärts stehende Hirsch hat hierbei Vorteile, doch die Rollen wechseln ständig. Langsam scheint der Alte immer mehr die Oberhand zu gewinnen, und dann geht alles blitzschnell: Er drückt den hangabwärts stehenden Achtzehnender so mit dessen Hinterhand gegen einen vom Sturm geworfenen Fichtenstamm, dass dieser sich aus der Geweihbindung löst und mit einem Salto rückwärts auf der anderen Seite der Fichte landet. Blitzschnell rafft er sich auf, und ehe der Alte seinerseits über die Fichte hinwegsetzt, entschwindet der entthronte Platzhirsch ins dichte Gewirr der Sträucher. Wenige Sekunden später sehe ich ihn durch das lichte Altholz über den Kamm wechseln. Jedes Tier ist bemüht, Energie möglichst effizient einzusetzen und gefährlichen Tätigkeiten aus dem Weg zu gehen. Handlungen, die mit einem hohen Energieverbrauch und hoher Verletzungsgefahr verbunden sind, werden auf das Notwendigste reduziert oder unter ungünstigen Umständen vollständig unterbunden. Überall im Tierreich gehören Kämpfe in jeglicher Form in diese Kategorie. Da Hirsche in der Brunft ohnehin durch die Tätigkeiten des Herdens, Treibens und Beschlagens von Kahlwild extrem hohen Energieverlusten ausgesetzt sind, wären Kämpfe und mögliche Verletzungen eine zusätzliche Belastung. Gerade vor dem Winter können jedoch sowohl Energieverluste als auch mögliche Verletzungen tödliche Folgen haben.

Brunftkämpfe sind nur dann häufiger zu beobachten, wenn ausgesprochen viele, gleichalte und gleichstarke Hirsche im Revier stehen und/oder die Anzahl der weiblichen Stücke ausgesprochen gering ist. Ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis und eine ausgewogene Sozialstruktur sind daher auch wichtige Parameter für eine dauerhaft vitale Rotwildpopulation, in der Hirschverluste durch Kämpfe eher zu den Ausnahmen gehören. Bevor es zwischen Rothirschen allerdings zu ernsthaften Kämpfen kommt, werden schon so viele Stufen der wechselseitigen Einschätzung des Gegners durchlaufen, dass in den meisten Fällen Waffengänge überflüssig werden. Kennen sich Hirsche entweder schon aus der Bastzeit und Feiste, sind sie sich ihrer Stärken und Schwächen häufig so bewusst, dass es auch in der Brunft selten zu Auseinandersetzungen kommt. Ähnliches kann für Geweihte gelten,
die sich schon jahrelang auf den Brunftplätzen wiedertreffen und ebenfalls wissen, was sie voneinander zu halten haben. Eine allgemeingültige Regel kann man daraus nicht ableiten, da sich natürlich sowohl während der Brunft, als auch im Verlaufe der Jahre die Kräfteverhältnisse ändern können. Sicherlich gibt es aber auch bei den Hirschen ausgesprochene „Raufbolde“ und zurückhaltende „Hasenfüße“. Die meisten Kämpfe werden von vornherein schon dadurch unterbunden, dass die Kräfteverhältnisse augenfällig sind: Ein Hirsch vom 3. Kopf kämpft aufgrund seiner Statur nicht mit einem vom 12. Kopf. Ernsthafte Brunftkämpfe gibt es in der Regel erst bei Hirschen vom 7. Kopf an. Beobachtet man verbitterte Kämpfe bei jüngeren Hirschen, muss man sich Gedanken zur Altersstruktur der Population machen! Sämtliche der während der wechselseitigen Kräfteeinschätzung aufgeführten Verhaltensweisen, auf die noch eingegangen wird, können zu jedem Zeitpunkt vor dem eigentlichen Kampf abgebrochen werden, sobald die Kontrahenten sich über die jeweilige Über- oder Unterlegenheit klar geworden sind. Die vor der eigentlichen Auseinandersetzung ablaufende Präsentation unter den Hirschen kann sämtliche der hier genannten Verhaltensmuster oder auch nur Teile davon enthalten. Zutration zwischen den Hirschen ohne klares Ergebnis durchlaufen wurde, wird der Kampf unvermeidlich.

Röhrduell: Die erste Kontaktaufnahme, noch bevor sich potenzielle Kontrahenten eräugen, erfolgt über ein akustisches Duell. Wenn auch keine wissenschaftlichen Untersuchungen dazu vorliegen, scheinen Hirsche jedoch oft schon anhand des Röhrens einen anderen Hirsch zumindest grob klassifizieren zu können. So kann häufig schon allein anhand der Lautäußerungen auf eine ebenfalls Energie kostende „Inaugenscheinnahme“ des Nebenbuhlers verzichtet werden.
Präsenz zeigen: Gibt das Röhren allein nicht genügend Informationen, ist optische Präsenz angesagt. Die Hirsche nehmen sich oft schon auf große Distanz wahr und können anhand von Körperstatur und Geweihauslage auch auf größere Entfernungen auf die Stärke schließen. Nun folgt die räumliche Annäherung, wobei zahlreiche Imponierhandlungen ablaufen können: Wimpelschlagen, Ausschachten der Brunftrute mit Harn- oder sogar Spermaspritzen. Oft werden diese Distanzhandlungen von weiterem Röhren begleitet.
Der Stechschritt: Beim sich anschließenden Imponiermarsch schreiten die Hirsche angespannt und steifläufig aufeinander zu, wobei sie das Haupt vollständig gerade halten und nicht hin und her schwenken. Marschieren sie dabei nicht frontal aufeinander zu, wirkt dies wie ein „Nichtbeachten“ oder „Aneinander-Vorbeiäugen“. Das „Nicht-in-die-Lichter-äugen“ gilt unter Säugern allgemein als entspannende Geste, die der Verminderung von Aggressionen dient. Das frontale „Sich-annähern“ der Gegner würde auf kurze Distanz unweigerlich den direkten Kampf auslösen!

Parallelmarsch ist die letzte Warnung. Daher schließt sich an das Imponierschreiten, durch eine spiegelbildliche Viertelkreisbewegung beider Hirsche der so genannte Parallelmarsch oder -lauf an. Die Hirsche schreiten nun in einem Abstand von wenigen Metern nebeneinander her und haben aus nächster Entfernung die volle Breitseite des Gegners neben sich. Diese „Nahdiagnose“ ermöglicht beiden eine gute optische Einschätzung des Rivalen. Der Parallelmarsch kann sich über 100 bis 200 Meter hinziehen. Oftmals wenden die Hirsch auch mehrfach und schreiten dann dieselben Strecken hin und zurück. Mitunter endet auch der Parallelmarsch in einer friedlichen Trennung – sie haben sich fast auf Tuchfühlung begutachtet, und einer von beiden hat erkannt, dass er der Schwächere ist. Ein Kampf hat dann keinen Sinn mehr – enorme Energieersparnis für beide Seiten! Aus dem Parallelmarsch heraus kommt es aber dann zum Kampf, wenn auch die „Nahdiagnose“ kein klares Ergebnis gebracht hat: Blitzschnell binden die Hirsche durch eine Vierteldrehung zum Gegner hin die Geweihe. Manchmal findet auch nur ein kurzes Kräftemessen statt, und nach wenigen Sekunden ist die Lage geklärt. Es kann sich aber auch ein minuten- (bis hin zu stunden-) langes Schieben und Kreisen ergeben. Die Gegner versuchen dabei, sich voreinander herzuschieben und den anderen zu Rückwärtsbewegungen zu zwingen. Gelegentlich kreisen sie auch umeinander, wobei sie sich um die gebundenen Geweihe wie um das Zentrum eines Kreises bewegen. Diese Bewegungen erfordern wesentlich weniger Kraft als das eigentlich Schieben und werden häufig als „Luftschnappen“ interpretiert. Gelegentlich werden auch richtige Pausen eingeschoben, bei denen sich die Hirsche aus der Geweihbindung lösen. Sie zeigen während der Pause oft verschiedenste Imponierhandlungen. Dabei vermeiden sie es aber strikt, einander anzuäugen. Dies würde die Pause unverzüglich beenden.

Sobald ein Hirsch merkt, dass er unterlegen ist, versucht er, sich aus der Geweihbindung zu lösen, wendet blitzschnell und ergreift die Flucht. Der Sieger setzt ihm in der Regel kaum nach und röhrt anschließend siegesbewusst. Interessant ist, dass es vor der eigentlichen Geweihbindung während des Parallelmarsches seitens eines Hirsches zu weilen schon Kopfbewegungen in die Richtung des Gegners gibt, die auf eine gleich folgende Geweihbindung schließen lassen. Diese Bewegungen während des Parallelmarsches sind für das normale menschliche Auge kaum wahrnehmbar. Bützler belegte schon 1974 durch Filmaufnahmen, dass in den zahlreichen Fällen, in denen der andere Hirsch nicht auf diese Bewegungen reagierte, dieser „gelassenere Typ“ im an- schließenden Kampf auch stets Sieger blieb.

Der „Hektiker“, der die Geweihbindung herbeiführen wollte, zog stets den Kürzeren! Voraussetzung für einen ernsthaften Kampf ist das Vorhandensein von brunftigem Kahlwild. Hirsche, die sich während der Brunft ohne Kahlwild begegnen, kämpfen grundsätzlich nicht. Wenn gegen Ende der Paarungszeit kaum noch unbeschlagenes Kahlwild umherzieht, kommt es zwischen den Hirschen zu erbitterten Kämpfen um die letzten brunftigen Stücke. Viele Hirsche wähnen dann die letzte Chance des Jahres gekommen. Besonders zum Brunftende kommt es häufiger zu schweren Verletzungen. Dies liegt nicht nur an der Vehemenz der Kämpfe, sondern oft auch an der Ermüdung der Hirsche, weil sie nur matt auf Geweihstöße des Gegners reagieren können. Es fehlt einfach die Spritzigkeit.
Verletzungen während der Brunft sind übrigens nach Studien aus England dort keinesfalls so selten wie man häufig in der Literatur liest. Nach Untersuchungen auf der Insel Rhum weisen zirka 30 Prozent der dortigen Hirsche Verletzungen auf, die in direktem Zusammenhang mit der Brunft stehen. Auch Reulecke berichtet aus dem Harz von zahlreichen „ramponierten“ Hirschen, die nach der Brunft an den Fütterungen auftauchten. Einer der entscheidenden Faktoren ist das Geschlechterverhältnis: Mehr Hirsche, mehr Auseinandersetzungen. Früher glaubte man, Brunftkämpfe hätten eine Beschädigung des Gegners oder gar dessen Tod zum Ziel. Inzwischen wissen wir aber, dass der Brunftkampf der Rothirsche ein „Kommentkampf“ ist: eine stark ritualisierte Handlung, die den Gegner vertreiben soll.
Natürlich kommt es bei derartig heftigen Auseinandersetzungen auch immer mal wieder zu tödlichen Ausgängen. Sie sind aber weder beabsichtigt, noch die Regel. Es kann passieren, dass ein Hirsch von einem Geweihende so unglücklich an Haupt, Träger oder Brust getroffen wird, dass augenblicklich der Tod eintritt oder die Verletzung so schwer ist, dass der verletzte Hirsch daran eingeht. Klassisch und ebenso tragisch ist natürlich die nicht mehr lösbare Bindung der Geweihe zweier Kämpfer. In der Regel verhungern dann beide Hirsche oder das Genick des einen oder gar beider wird gebrochen. Gelegentlich kommt es vor, dass einer der Kontrahenten während des Kampfes schwer verletzt wird oder so erschöpft ist, dass er nicht mehr fliehen kann. In diesem Fall kommt es dann oft zum Totforkeln durch den Überlegenen, was früher als blutrünstige Tat des Siegers gewertet wurde. Heute wissen wir aber, dass die Flucht dem Sieger die Unterlegenheit des Gegners signalisiert und Auslöser für das Einstellen der Kampfhandlung ist. Das Röhren des Siegers als direkte Reaktion auf die Flucht des  Unterlegenen verstärkt im Grunde die Kampfhemmung: Mit einem in den Nacken geworfenen Geweih kann nicht weiter geforkelt werden. Flüchtet der unterlegene Hirsch nicht, kommt es instinktiv zu einer Fortsetzung des Kampfes mit den entsprechenden Folgen. Die intensiven Studien der Briten auf der Insel Rhum belegen es ausdrücklich: Erfolgreiche Kämpfer geben auch ihre Gene am häufigsten weiter. Hirsche, die in ihren Kämpfen häufig siegreich waren, haben im Verlaufe ihres Lebens auch die meisten Nachkommen gezeugt. Und erfolgreiche Väter dominierten auch die attraktivsten Brunftplätze, die sich durch qualitativ gute Äsung und zahlreiches Kahlwild auszeichnen. Nicht alle schweren und großen Hirsche waren nach den britischen Studien erfolgreich, aber alle erfolgreichen Hirsch lagen mit ihren Größen und Körpergewichten immer deutlich über dem Durchschnitt. Da die Körpergewichte eng mit den Geweihgewichten korrelierten, trugen die erfolgreichsten Hirsche im Durchschnitt auch die stärksten Geweihe.

Interessant ist, dass das Geweih als Imponierorgan fast ausschließlich von dessen Länge und Auslage abhängt. Hirschen, denen man im Versuch die Enden vom Geweih entfernte, Länge und Auslage jedoch unverändert ließ, blieben in ihrer Rudelstellung unverändert. Erst bei einer Einkürzung der Geweihe oder einer Verringerung der Auslage litt die Stellung der Hirsche unter den Konkurrenten. Eigenartigerweise hat das Geweih zwar als Imponierorgan Bedeutung, kommt es zum Kampf, fällt ihm für dessen Ausgang nur eine untergeordnete Rolle zu.


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