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Traumrevier: Treibjagd auf Spiekeroog

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Auf dem ostfriesischen Eiland gibt es kein Haarraubwild. Der dementsprechend üppige Niederwildbesatz lässt die Jäger aus dem Vollen schöpfen und bietet Waidwerk, von dem man andernorts heute nur noch träumen kann. Markus Deutsch

„Hahn nach vorne!“, tönt es aus dem Dünental. Mit trommelndem Schwingenschlag, wehendem Spiel und empörtem „Tödök, tödök“ erhebt sich ein im strahlenden Sonnenschein bunt schillernder Fasan aus dem silbrig-grünen Sanddorn und streicht, immer wieder gleitend, den Strand entlang. Ein Frontjäger backt an, zieht mit. Auf den Schuss hin schlagen die Schwingen über dem Beschossenen zusammen, und er plumpst wie ein Stein zu Boden. Während sich die Treiberkette weiter durch das fast undurchdringliche, stellenweise gar mannshohe Gestrüpp der Fasanenbeere kämpft, saust ein Hase aus dem Dorn. Flüchtig springt er die Düne hoch und ist im Nu hinter der
Kuppe verschwunden, um gleich darauf auf der folgenden Böschung einen Haken zu schlagen und wieder hinter dem nächsten Sandberg abzutauchen. Ein einzelner Knall unmittelbar danach aus derselben Richtung lässt vermuten, dass auch er gestreckt wurde.
Immer wieder durchdringen Schüsse das Rauschen der Nordsee-Brandung, tönen die Rufe der Treiber in den schönen Spätherbsttag und kündigen den Standschützen nahendes Wild an. Dabei sah es vor 24 Stunden, am ersten Jagdtag auf der Insel, noch danach aus, als würde das Ganze buchstäblich ins Wasser fallen. Man fühlte sich an die Beschreibungen des
römischen Historikers und Senators Tacitus aus seiner um 100 nach Christus verfassten „Germania“ erinnert und war geneigt, ihm zu glauben: ein wüstes Land mit rauhem Himmel an einem unwirtlichen Weltmeer. Die tief hängenden, düsteren Wolken entließen Unmengen von waagerecht ins Gesicht klatschenden, kalten Schauern. Das Meer brüllte, vom Nordwest hochgepeitscht, und brodelte mit weißen Schaumkronen. Klitschnasses
Gestrüpp auf den graubraunen Dünen hielt die Treiber umklammert, sodass es nur mit großen Mühen vorwärts ging. Zwar waren die windgewohnten Friesen samt ihren Gästen bei dem grausigen Schietwetter tapfer ausgerückt, natürlich nicht ohne auf die besonderen,
inseltypischen Gefahren, wie Schüsse in Richtung Dünenkamm oder des harten Strandhafers, hinzuweisen.

Wo sich sommers knapp bekleidete Badegäste in der Sonne aalen, warten jetzt Durchgehschützen fröhlich auf ihren Einsatz.

Aber nach dem zweiten Treiben war es auch den Gastgebern zu ungemütlich, und zu Fuß oder per Rad – Spiekeroog ist autofrei – ging es zum Aufwärmen und vorgezogenen Schüsseltreiben zurück zur gemütlichen, am Ostrand des Ortes etwas versteckt gelegenen Jagdhütte. An der See kann das Wetter schnell umschlagen, und so verzaubert der
Sonnenschein die am Vortag noch so trist erscheinende Insellandschaft heute in eine herrliche Herbstidylle. Über dunkelgrüne Krähenbeeren- und grüngraue Flechtenteppiche geht es vorbei an silbernen Espenstämmen, deren blattlose Zweige in dieser Jahreszeit
violett schimmern. Die Dünen-Pracht so nahe zu erleben, bleibt den meisten Mitmenschen versagt, denn normalerweise ist das Betreten der typischen Inselvegetation verboten. Für das Jagen in den bewachsenen Sandbergen gibt es Sonderregelungen.

Das Treiben ist zu Ende. Im Gänsemarsch stapfen die Jäger samt Hunden und Beute auf den schmalen Sandpfaden zwischen den Dünen hindurch Richtung Sammelplatz. Dort stechen schon, sich deutlich vom giftgrünen Moos abhebend, die ersten, zur Strecke gelegten rot-braunen Fasanen ins Auge. Angeregt werden die eigenen Erlebnisse
den Jägern geschildert, die am anderen Ende des Treibens gestanden haben. Überall sieht man fröhliche Gesichter, unterbrechen Lacher die Schilderungen. Anscheinend haben
die rund 45 Jagdteilnehmer großen Spaß. Dass man hier ganz offensichtlich gemeinsam mit guten Freunden jagt, wurde bereits bei der Anreise am Fähranleger deutlich, wo die 20 ortsansässigen Jäger ihre Festlandsgäste in Empfang nahmen: herzliche Begrüßungen
und Umarmungen, als ob der verlorene Sohn heimgekehrt sei.

Der Spiekerooger Claas Warenski hat sich auf der Kohuk-Düne postiert und von dort gute Sicht ins Treiben
Fast wäre er überlaufen worden! Jetzt sucht der Hase sein Heil in der Flucht und kommt, die Deckung geschickt nutzend, davon.
Gruppenleiter Wolfgang Feldmann (vorne) hat seinen Anlauf und -flug genutzt: Ein Hase und eine Schnepfe streckte er im vorangegangenen Treiben in den Braundünen (u.).
Auf Kollisionskurs: Die „annehmende“ Ricke wäre fast auf Tuchfühlung gegangen. Entsprechend respektvoll reißt der Jagdgast die Hacken zusammen.

Nachdem die bisherige Beute auf dem vom Elektromobil gezogenen Wagen
aufgehängt ist, gehts ans nächste Treiben. Die Vorstehschützen-Garde hat sich bereits in den Sattel geschwungen und radelt über die verschlungenen Wege zu ihren Ständen. Auch die übrigen Jäger verteilen sich. Das nächste Treiben führt von Osten über die alten, im Innern der Insel gelegenen Braundünen Richtung Ortschaft. Claas Warenski bezieht auf der Kohuk-Düne Stellung. Sie gehört zu den höchsten der Insel und bietet dem Spiekerooger Jäger einen grandiosen Überblick über das anstehende Treiben.
Ihren Namen hat sie von einem kleinen geschützten Tal am Fuß der Erhebung, das heute mit Pappeln bestanden ist. „Bei Sturmflut wurde dort das Vieh von den Weiden zusammengetrieben. So war es sicher. Ko ist plattdeutsch für Kuh“, erklärt der Insulaner,
während er aufmerksam die nur kurz bewachsenen Braundünen beobachtet.
„Da kommt einer“, raunt Warenski. Auf ungefähr 60 Meter steuert ein Hase mit großen Sprüngen auf die Düne zu. Der Spiekerooger fasst die Flinte fester. Doch noch bevor das Langohr nahe genug ist, dreht es Richtung herannahender Treiberfront ab. Dort hat ihn
Wolfgang Feldmann bereits bemerkt, als Lampe über die Kuppe geflitzt kam.
Noch trennt die beiden ein buschbestandenes Tal. Wird der Hase die Richtung halten und weiter auf den Gruppenleiter zulaufen? Dieser ist bereit, schaut mit langem Hals ins
Gebüsch herunter. In dem Moment schnellt der Braune aus dem Bewuchs. Die Flinte saust an die Wange. Der Schuss bricht, und der Hase rolliert. „Waidmansheil!“, ruft Warenski
seinem Jagdfreund zu. „Waidmannsdank!“, schallt es zurück. Da die Treiberlinie
näherkommt, räumt Warenski seinen Ausguck. „Bis in die 70er hatte hier auf der
Insel die Bremer-Bielefelder Jagdgesellschaft die 1 850 Hektar gepachtet. Das war ein Zusammenschluss von dortigen Kaufleuten“, erzählt der Spiekerooger aus der Geschichte. „Da gingen die Insulaner nur als Treiber mit. Als dann immer mehr Einheimische
Jagdscheine hatten, haben die selbst gepachtet.“

Dreimal pro Jahr laden die Inseljäger zu zweitägigen Gesellschaftsjagden ein, bei denen auch die Ostplate, ein unbebautes, naturbelassenes Gebiet, das mehr als die Hälfte der
Inselfläche einnimmt, abgetrieben wird. Pro Jagd sind Strecken um die 200 Kreaturen die Regel, darunter auch Enten, Gänse, Tauben und Schnepfen. Selig, wer in diesem Niederwild-Dorado jagen darf! Dass die Spiekerooger Jäger mit der Menge an Beute keinerlei Probleme haben, beweisen sie eindrucksvoll am späten Nachmittag des herrlichen Tages. Insgesamt werden nach weiteren Treiben im Westteil der Insel 28 Hasen,
36 Fasane, sieben Schnepfen, eine Krähe und eine Elster an der Dünenböschung neben der Jagdhütte zur Strecke gelegt und verblasen. Dafür, dass ein Jagdtag aufgrund des schlechten Wetters ausgefallen ist, ein zufriedenstellendes Ergebnis. Dann ergreift die Inseljäger emsige Betriebsamkeit: An Edelstahltischen, die bestens beleuchtet und überdacht hinter der Jagdhütte mit Wasseranschluss stehen, wird das Wild mit
geregelten Arbeitsabläufen und gekonnten Handgriffen versorgt. Dabei übernimmt jeder eine bestimmte Aufgabe. Zwei Jäger balgen die Hasen ab, während andere sich um die Fasanen kümmern. Eine Tierärztin, die ebenfalls mitgejagt hat, kontrolliert Innereien
und Wildbret. In Rekordzeit ist die gesamte Strecke küchenfertig. „Das Wild bleibt auf der Insel. Ein Teil geht an Privatleute, der andere an die Gastronomie“, weist Warenski auf die
große Nachfrage auf dem ostfriesischen Eiland hin.
Am Abend fällt Licht aus den kleinen Jagdhüttenfenstern auf die sie umgebende
dunkle Düne. Ein Schifferklavier ist zu hören, und fröhlicher Gesang dringt nach außen. Wieder kommt Tacitus in den Sinn, diesmal mit dem ihm zugeschriebenen Ausspruch „Frisia non cantat“ – Friesland singt nicht. Auch in diesem Fall soll der Römer kein recht
behalten: Die Spiekerooger Jäger und ihre Gäste belehren ihn stimmgewaltig
eines Besseren.

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