ANZEIGE

Schonzeitvergehen (3) – Strafverfahren eingestellt

4503


von Mark G. v. Pückler

I. Die Rechtsgrundlage

„In den Setz- und Brutzeiten dürfen bis zum Selbständigwerden der Jungtiere die für die Aufzucht notwendigen Elterntiere, auch die von Wild ohne Schonzeit, nicht bejagt werden. Die Länder können für Schwarzwild, Wildkaninchen, Fuchs, Ringel- und Türkentaube, Silber- und Lachmöwe sowie für die nach Landesrecht dem Jagdrecht unterliegenden Tierarten Ausnahmen bestimmen.“
§ 22 Abs. 4 BJG.

„Mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer entgegen § 22 Abs. 4 ein Elterntier bejagt. Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen.“ § 38 BJG.

„Das Gericht kann das Strafverfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten vorläufig einstellen und dem Angeschuldigten bestimmte Auflagen und Weisungen erteilen, wenn diese geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht.“ § 153a Strafprozessordnung.

II. Der Sachverhalt

Am Abend des 11.07.1995 saß Jäger J. auf Schwarzwild an. Gegen 21.45 Uhr tauchte plötzlich vor ihm eine Rotte von 18 ausgewachsenen Sauen auf, unter denen sich mehrere starke Stücke befanden. Wegen des hohen Grasbewuchses waren keine Frischlinge zu erkennen.

J. suchte sich ein verhältnismäßig geringes Stück zum Abschuss aus (45 kg), wobei er davon ausging, dass – falls wider Erwarten doch Frischlinge vorhanden seien – diese den erheblich stärkeren Sauen zuzuordnen wären.

Er war daher „ganz sicher“, kein notwendiges Elterntier zu erlegen. Dass es dann doch eine führende Bache war, hat ihn „völlig überrascht“. Es gelang ihm noch, einen der zwei bis drei Frischlinge zu erlegen (11 kg).

III. Das Urteil

1. Das Amtsgericht
Das Amtsgericht sprach den Jäger aus zwei Gründen frei: Zum einen habe er kein Elterntier erlegt, das noch „notwendig“ gewesen sei, zum anderen sei ihm nicht vorzuwerfen, eine Sorgfaltspflicht verletzt zu haben.

  • Der vom Gericht zugezogene Sachverständige Dr. X. habe überzeugend ausgeführt, dass ein Frischling, der schon in den Sommermonaten ein Gewicht von elf Kilogramm habe, ohne Schwierigkeiten selbständig überleben könne. Ferner werde ein Frischling – anders als z.B. beim Rehwild – stets auch von einer anderen Bache der Rotte angenommen. Für die Frage der Selbständigkeit des Jungtieres sei die Tatsache, dass die Bache noch milchführende Milchdrüsen habe, von untergeordneter Bedeutung.
  • Außerdem habe der Jäger auch keine vorwerfbare Sorgfaltspflichtverletzung begangen. Der Sachverständige habe ausdrücklich bekundet, dass sich J. „regelrecht“ verhalten habe. Denn er habe nicht damit rechnen müssen, dass gerade das verhältnismäßig schwache Stück der Rotte eine führende Bache sei.
    Im Gegenteil, so der Sachverständige, es wäre „geradezu fahrlässig“ gewesen, dieses Stück zu verschonen. Denn infolge der milden Winter und der günstigen Futterverhältnisse hätten sich die Schwarzwildbestände in solchem Maße vermehrt, dass jährlich Wildschäden in Millionenhöhe entstünden.
  • Die Fertilität (Fruchtbarkeit) habe sich in einer nicht mehr naturgemäßen Weise so gesteigert, dass entgegen dem natürlichen Kreislauf ganzjährig mit Frischlingen gerechnet werden müsse. Es sei bereits vorgekommen, dass starke, noch gestreifte Frischlinge bereits trächtig gewesen seien. Aus diesen Gründen würden die Jagdbehörden die Jäger zu einer verstärkten und nachhaltigen Bejagung des Schwarzwildes – auch der Bachen – auffordern.

J. habe daher in der konkreten Situation nicht erkennen können, welche Sorgfalt von ihm eigentlich erwartet werde. Denn einerseits müsse er ganzjährig und damit naturwidrig auch während der Jagdzeit mit führenden Bachen rechnen, weshalb er im Ergebnis Bachen überhaupt nicht bejagen dürfe. Andererseits erwarteten selbst die staatlichen Jagdbehörden eine intensive Bejagung des Schwarzwildes einschließlich der Bachen.

Ein Verstoß gegen nicht eindeutig bestimmte Pflichten sei aber nicht vorwerfbar. Amtsgericht Heidelberg, Urteil vom 26.09.1997 – 13 AK 49/97 Cs –

2. Das Landgericht

Die Staatsanwaltschaft legte gegen den Freispruch Berufung ein. Zur Begründung führte sie aus, dass es zur Erlegungszeit noch taghell gewesen sei und eine Sichtbehinderung durch hohes Gras nicht bestanden habe.

Außerdem habe es sich bei einem Gewicht von 45 Kilogramm nicht um ein verhältnismäßig schwaches Stück gehandelt, sondern um eine mittelschwere Bache, die um diese Jahreszeit erfahrungsgemäß Frischlinge führe.

Das Erlegen des Frischlings unmittelbar nach dem Schuss auf die Bache zeige, dass die Frischlinge in der Nähe und sichtbar gewesen seien. In den Zitzen der Bache habe sich noch Milch befunden; dies beweise, dass die Frischlinge noch nicht selbständig gewesen seien.

Daraufhin erhoben das Landgericht und die Verteidigung jeweils ein weiteres Gutachten.

2.1 Gutachter des Gerichts

  • Ausgangspunkt sei aus wildbiologischer Sicht, so Gutachter Dr. Y., dass die Aufzucht der Jungtiere allein durch das Muttertier (Bache) erfolge und das Schwarzwild in Rotten lebe, die bis zur Rauschzeit ausschließlich aus Bachen und Frischlingen bestünden. Die Rotten seien reine Familienverbände, Angehörige anderer Familien würden in der Rotte nicht geduldet.
  • Alle männlichen Stücke (Keiler) würden mit etwa 18 Monaten aus der Rotte ausgeschlossen. Sie kehrten erst wieder zur Rotte zurück, wenn das erste Stück rauschig werde.
  • Innerhalb der Rotten herrsche eine strenge Rangordnung; es dominierten stets die Älteren über die Jüngeren und die Bachen über die Keiler. Dies führe zu einer höheren Sterblichkeit der Frischlingskeiler, so dass deren Anteil an der Rotte nur etwa 30 Prozent betrage.
  • Die Rauschzeit werde durch die älteste Bache ausgelöst, die jüngeren Bachen folgten nach. Der Beginn der normalen Rauschzeit sei Ende November, sie könne sich aber bis in den Februar hineinziehen. Dementsprechend würden in intakten Rotten die ersten Frischlinge im März, die letzten im Juni gefrischt.
  • Die Säugezeit der Frischlinge dauere rund vier Monate; im dritten bis vierten Monat verlören die Frischlinge ihre gelben Streifen (Gewicht: zwischen 8 – 13 kg), nach sieben bis acht Monaten seien sie in der Regel selbständig.
  • Zum Frischen sondere sich die Bache von der Rotte ab und bilde einen Kessel, in dem die Frischlinge in den ersten Tagen Schutz vor Kälte und Feinden fänden. Nach etwa zwei bis vier Wochen, wenn sie der Bache folgen könnten, kehre diese mit den Frischlingen zur Rotte zurück.
  • Bei Rückkehr zur Rotte sei es möglich, dass die Frischlinge zunächst auch bei fremden Bachen Milch erlangten; aber schon nach kurzer Zeit verteidige jeder Frischling seine eigene Zitze bei der Mutter, so dass fremde Frischlinge nicht mehr geduldet würden. Da Bachen nur acht Zitzen hätten, könnten auch maximal nur acht Frischlinge aufwachsen, alle weiteren würden verenden. Bei weniger Frischlingen würden zuerst die hinteren Zitzen belegt, die vorderen blieben trocken.
  • In den ersten vier Monaten, während der Säugezeit seien die Frischlinge noch nicht in die Rangordnung der Rotte einbezogen. Jedes Rottenmitglied dulde die fremden Frischlinge neben sich. Das ändere sich erst nach dem Absetzen von der Muttermilch, von jetzt an (4. – 7. Monat) erlaube die Bache nur noch ihren eigenen Frischlingen die Futteraufnahme in ihrer Nähe, alle fremden Frischlinge würden rücksichtslos verjagt.
  • Im Alter von sieben bis acht Monaten erwache dann der Futterneid der Bache gegenüber ihren Frischlingen. Diese müssten sich jetzt in die Rangordnung der Rotte einordnen, wobei die Reihenfolge ausgekämpft werde. Erst jetzt erlangten die Jungtiere ihre vollständige Selbständigkeit.
  • Rund vier Monate alte Frischlinge könnten zwar im Sommer überleben, sie kümmerten aber in jedem Fall und seien die rangniedrigsten Tiere der Rotte. In ihrer körperlichen Entwicklung blieben sie stark zurück und seien besonders krankheitsanfällig, oft sonderten sie sich von der Rotte ab.
  • Solche zurückgebliebenen Stücke rauschten häufig zur Unzeit (später), so dass sie erst im Mai bis August beschlagen würden, im Falle der Absonderung von der Rotte häufig durch ihre eigenen Brüder, da ältere Keiler zu dieser Zeit nicht mehr bei der Rotte stünden. Die Folge seien Frischlinge im Herbst/Winter, Zwergenwuchs, hohe Sterblichkeit und wiederum Rauschigwerden und Frischen zur Unzeit. Eine einmal zur Unzeit frischende Bache behalte diesen Rhythmus weitgehend bei. Somit komme durch den Abschuss eines noch laktierenden (Milch gebenden) Muttertieres die normale Rausch- und Setzzeit der Nachkommen durcheinander.

Aus diesen wildbiologischen Zusammenhängen ergäben sich für den vorliegenden Fall folgende Schlussfolgerungen:

  • Bei der am 11. Juli erlegten Bache von 45 Kilogramm habe es sich um ein führendes, noch laktierendes und damit notwendiges Elterntier gehandelt.
  • Der erlegte Frischling sei etwa vier Monate alt und noch nicht selbstständig gewesen.
  • Infolge weiterer milchführender Zitzen müsse die Bache noch mehr unselbständige Frischlinge geführt haben.
  • Das Erlegen eines Frischlings von elf Kilogramm habe nur bei guten Licht- und Sichtverhältnissen erfolgen können, so dass ein sicheres Ansprechen der Bache möglich gewesen sei.
  • Wer in den Sommermonaten aus einer Rotte ein vollverfärbtes Stück erlege, ohne es vorher genau angesprochen zu haben, müsse mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer führenden Bache rechnen.

2.2 Gutachter der Verteidigung
Der Gutachter Dr. Z. verwies zunächst auf die Besonderheiten der Schwarz-wildbejagung (kein Abschussplan, erlaubte Nachtjagd, ganzjährige Jagdzeit von Frischlingen und Überläufern, erlaubtes Ankirren u.a.) sowie auf die starke Vermehrung (Baden-Württemberg: Strecke 1979/80 etwa 3 000 Stück, 1996/97 rund 30 000 Stück) und die dadurch verursachten Wildschäden, ferner auf die wachsende Gefahr des Ausbruchs der Schweinepest.

  • Weitergehend führte der Sachverständige aus: Wenn aus einer Rotte von 18 adulten Tieren ein Stück erlegt werde und danach noch ein Frischling, so müsse dieses Jungtier nicht zwangsläufig zu dem erlegten Stück gehört haben, selbst wenn der Abschuss an „derselben Stelle“ erfolgt sei.

    Denn die zwischen den einzelnen Bachen „herumwuselnden“ Frischlinge könnten letztlich nur durch eine genetische Untersuchung den jeweiligen Muttertieren sicher zugeordnet werden.

  • Ferner sei zu bedenken, dass das Vorhandensein von Milchgewebe und deutlich ausgebildeten Zitzen nicht zwingend bedeute, dass die Bache zum Zeitpunkt ihrer Erlegung tatsächlich noch Frischlinge geführt habe. Denn bei Verlust der Frischlinge (durch Abschuss, Unfall, Krankheit o.ä.) könne es eine Woche dauern, bis sich das Gesäuge zurückgebildet habe.
  • Eine führende Bache sei als Elterntier „notwendig“, solange die Frischlinge zum Überleben auf die Muttermilch angewiesen seien. Diese Phase ende nach drei bis vier Monaten (Verlust der Streifen); danach könnten sich die Frischlinge jedenfalls in den Sommermonaten ausreichend selbstständig ernähren.
  • Aus wildbiologischer Sicht sei eine weitere Führung geboten, weil mutterlose Frischlinge in ihrer Entwicklung zurückblieben, im Rottenverband auf die unterste Stufe der Rangordnung abfielen oder sich als Frischlingsrotten vom Verband abspalteten.
  • Auch im Herbst/Winter sei stets mit führenden Bachen zu rechnen; denn nicht nur schwache und zurückgebliebene Stücke frischten verspätet, sondern häufig auch normale Bachen, deren (Erst-) Wurf durch Unfall, Abschuss o. ä. verloren gegangen sei (sog. Nachrausche).

2.3 Einstellung des Verfahrens
Nun war guter Rat teuer; denn das Gericht musste für eine Verurteilung voll davon überzeugt sein, dass der Jäger ein „notwendiges Elterntier“ erlegt hatte.

  • Eine solche „volle Überzeugung“ ist gegeben, wenn das Gericht aufgrund aller Umstände nach seiner freien Einschätzung/Wertung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass an Tat und Täter keine vernünftigen Zweifel mehr bestehen. Eine mathematische Gewissheit ist nicht erforderlich, rein theoretische Zweifel bleiben außer Betracht.

Ob für eine solche volle Überzeugung das Vorhandensein von Milch in einigen Zitzen ausreichend ist, muss also der jeweilige Richter selbst für sich entscheiden; denn er muss an der Richtigkeit des Sachverhaltes keine vernünftigen Zweifel mehr haben.

  • Da beim Verlust der Frischlinge die Rückbildung des Gesäuges eine Woche dauern kann, wird man sagen müssen, dass das Erlegen eines notwendigen Elterntieres um so sicherer nachgewiesen ist, je mehr Zitzen noch Milch führen, da ein Verlust aller Frischlinge in kurzer Zeit äußerst selten ist.
  • Angesichts dieser Lage tat das Landgericht das einzig Richtige: Es stellte das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gemäß § 153a Strafprozessordnung vorläufig ein und legte dem Angeklagten eine Geldbuße von 2.500 DM auf. Diese sei geeignet, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen.

IV. Ergebnis

1. In Strafverfahren muss dem Beschuldigten die Begehung der Tat voll nachgewiesen werden. Das bedeutet, dass das Gericht aufgrund aller Umstände des Falles die volle (persönliche) Überzeugung von Tat und Täterschaft erlangt haben muss, so dass es keinen vernünftigen Zweifel mehr hat.

2. Das Gericht kann ein Strafverfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten vorläufig einstellen, wenn die Verhängung bestimmter Auflagen (Geldbuße u.a.) geeignet ist, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht.

Das ist gewissermaßen ein „Mittelweg“ zwischen Verurteilung und Freispruch; deshalb muss in solchen Fällen die Schuld des Täters nicht bereits voll nachgewiesen sein, es genügt ein hinreichender Tatverdacht, so daß eine Verurteilung (nur) als möglich erscheint.

Je geringer die Vorwerfbarkeit und die Folgen der Tat, desto eher eine Einstellung des Verfahrens.

Erfüllt der Beschuldigte die ihm erteilten Auflagen (Zahlung der Geldbuße u.a.), so kann die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden; die Sache ist dann erledigt.

3. Da die Unzuverlässigkeit im Jagd- und Waffenrecht an eine Verurteilung anknüpft, kann eine Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nicht Grundlage für die Entziehung des Jagdscheins und der Waffenbesitzkarte sein.

Denn weder ist sicher, dass der Betroffene ohne die Einstellung tatsächlich verurteilt worden wäre, noch ist gewiss, zu welcher Strafe dies erfolgt wäre.

Hinzu kommt, dass dem Betroffenen auch kein gravierendes Fehlverhalten vorgeworfen werden kann, weil eine Einstellung des Verfahrens nur erfolgen darf, wenn die Schwere der Schuld nicht entgegensteht.

4. Das Verbot des Erlegens notwendiger Elterntiere ist nicht absolut; die Länder können für Schwarzwild, Wildkaninchen, Füchse u.a. bei Störungen des biologischen Gleichgewichts oder aus Gründen der Landeskultur (hohe Wildschäden) Ausnahmen bestimmen (z.B. Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen für Wildkaninchen u.a.).

Zu Schonzeitvergehen siehe ergänzend WuH 10/1999, S. 94 und WuH 17/1999, S. 56.


ANZEIGE

ANZEIGE
Aboangebot