Mit Glück kann man in ausgesuchten schottischen Revieren kapitale Recken erbeuten, die den berühmten südenglischen in nichts nachstehen, aber nur einen Bruchteil kosten. Wolfram Osgyan machte sich dort auf die Suche nach seinem Lebensbock.
Hier, schau hin!“, macht mich Björn aufmerksam. Ich werfe auf und denke, mich trifft der Schlag. Da stehen wir morgens um sieben Uhr an der Wildkammer des Gutes, laden einen braven Bock aus dem Jeep, und einen Steinwurf weiter „hetzt“ ein mächtiger Artgenosse seinen schmächtigeren Rivalen durch die Rinderkoppel. Im Nu ist das Fernglas vor den Augen, und die zehnfache Vergrößerung verrät: Das wäre einer. Auf meinen fragenden Blick hin winkt der Gamekeeper ab und kommentiert: „Not in the cattle area – nicht auf der Viehweide.“ Es ist erst der zweite Morgen unserer Bockwoche.
Überraschender Sitzkomfort
Der wolkenverhangene Himmel beginnt aufzureißen, der Wind flaut ab, die Sonne kommt durch, und das Firmament der Hoffnungen hängt voller Geigen. Weil der Stalker signalisiert, dass er seinen Job erstmal getan habe, beschließen wir, eine kleine Beobachtungstour auf öffentlichen Wegen dranzuhängen. Bei einsetzendem Morgengrauen, Schnürlregen und leichtem Wind hatten wir uns pünktlich um vier Uhr Ortszeit am vereinbarten Treffpunkt eingefunden und waren von unserem Jagdführer zu einem Gehöft am Rande eines Auwaldes chauffiert worden.
Von dort aus pirschten wir so leise wie es der schlammige Weg zuließ, etwa 100 Meter weit hinein in den Bestand zu einer hohen Leiter. Hier sollten wir bis 6.30 Uhr sitzen bleiben, vorzeitigen Erfolg wiederum per Handy mitteilen. Der Sitzkomfort überraschte angenehm und stand damit im krassen Gegensatz zu dem der kleinen Eisenleiter vom Vortag, deren Rückenlehne aus einer fingerdicken Querverstrebung bestand und bei der Schraubenfragmente das Kreuz punktierten, sobald es hinten Anlage suchte – auch eine Methode, sich wachzuhalten, wenn aufgrund einer kleinen Mütze voll Schlaf Zentner auf die Augenlider drücken.
Monoton klatschten Regentropfen auf die wasserdichte Überjacke, deren Halsabschluss und Ärmelbündchen auf engste Stufe gedrückt waren,und unentwegt starrte ich auf den Weg, der sich nach fünfzig Metern mit einer Rechtskurve im undurchsichtigen Unterholz verabschiedete.
Den Wind spürte ich im Gesicht. Sollte rechts Wild ziehen, würde es nicht unentdeckt bleiben, links gewährte eine winzige Blöße Schussfeld im Blätterdschungel und wollte überwacht sein, ansonsten musste ich die Chance auf Erfolg auf dem Pfad vor uns suchen.
Fünf Uhr, der Regen lässt nach. Mit einem Mal verhofft ein Schmalreh auf dem Weg, überquert ihn und zieht links in das Dickicht. Eine winzige Bewegung rechts lässt mich erst das 10×32 Leica heben und fast gleichzeitig zur Büchse greifen: Bock! Ich bringe ihn gerade noch ins Absehen, bevor er in die Blätter auf der anderen Wegseite eintaucht, registriere den massigen Wildkörper, schwarze Masse zwischen den Lauschern und lasse fliegen. Im Schuss kippt der Bock zurück auf den Weg.
Nichts hält mich in diesem Moment mehr auf dem luftigen Ausguck. Kaum bin ich am Boden, fallen Myriaden von Stechmücken über mich her und scheren sich den Teufel um das vorsorglich aufgetragene Schutzmittel. Das erste, was ich beim Nähertreten von dem von mir abgewendeten Gehörn entdecke, sind dünne Sprossen. Sollte ich mich so getäuscht haben? Nein. Die Stangen sind noch dicker als es der flüchtige Eindruck suggerierte und die Rosen riesig. Schwarze Farbe und grobe Perlen zieren zudem die reife Trophäe. Ein Klotz von einem Bock und uralt dazu.
Böcke im Greisenalter
Mein Herz beginnt im Dreivierteltakt zu schlagen. In diesem Moment tritt Björn hinzu. Mit „Dunnerwetter, Waidmannsheil!“, drückt er mir die Hand. Wir freuen uns einfach. Immer wieder heben wir das Haupt, greifen in die Stangen und sind uns einig, eine 400-Gramm-Trophäe erbeutet zu haben. Nicht die Aussicht auf Jagderlebnisse allein hatte mich nach Schottland geführt, auch nicht die Option, ein halbes Dutzend Böcke in fünf Jagdtagen erlegen zu können, von denen vier bis 350 Gramm in der Pauschale enthalten und weitere dieses Kalibers mit fünfzig Pfund pro Stück abzugelten waren. Nein, etwas anderes übte, angeregt durch Bilder von den Wochenstrecken der Vorjahre, einen unwiderstehlichen Reiz aus: Die realistische Chance, hier zu unwahrscheinlich günstigen Konditionen einen wirklichen starken Bock zu erlegen.
Im jeweils aufgereihten halben Dutzend ausgekochter Trophäen prahlte nämlich eigentlich immer einer der Güteklasse um die 500 Gramm. Dafür wären 300 Pfund Aufpreis fällig, bis 450 Gramm zweihundert und bis 400 Gramm 100 Pfund. Ein Bock über 550 Gramm schließlich würde ungeachtet des tatsächlichen Gewichtes pauschal 500 Pfund Abgabe fordern. Gemessen an schwedischen und südenglischen Preisen sind das Peanuts. Goldmedaillenböcke schießen hier in den Lowlands nahe Perth natürlich auch nicht wie die Pilze aus dem Boden, aber unter dem guten Dutzend von Böcken, die alljährlich auf dem Gut gestreckt werden, befinden sich immer einige reife Trophäenträger der internationalen Medaillenklasse.
Aus dem Munde des Gamekeepers hört sich dabei das Geheimnis der Stärke und Nachhaltigkeit recht einfach an: Über das Revier verteilt gibt es zahlreiche Deckungsinseln mit jeweils mehreren Einständen. Sie ermöglichen eine schier unglaubliche Populationsdichte von durchschnittlich zehn Böcken pro 100 Hektar. Davon werden gleichmäßig über’s Revier verteilt und ungeachtet des Alters maximal zwei der Wildbahn entnommen. Bei dieser äußerst zurückhaltenden Bejagung erreichen nicht wenige Böcke ein Greisenalter – falls sie es verstehen, sich in den zwei kritischen Maiwochen unsichtbar zu machen und nicht doch irgendwann in einem Nachbar-Gut oder auf der Straße ihr Leben aushauchen müssen.
Allein schon vor diesem Hintergrund wäre vielleicht eine intensivere Bewirtschaftung überdenkenswert. Aber die will der Großgrundbesitzer nicht, weil ihm an den Böcken nichts liegt. Seine Passion gehört nämlich allein der Flugwildjagd. Somit besteht die vorrangige Aufgabe der Gamekeeper im Aufziehen und Auswildern von Fasanen, der Erhaltung eines guten Besatzes und dem Kurzhalten seiner Fressfeinde. Die Bockjagd scheint da eher eine lästige Pflichtübung zu sein, die in möglichst kurzer Zeit und ausschließlich in der zweiten und dritten Maiwoche erledigt sein will. Dass sich hier zudem kaum Jagddruck aufbaut, leuchtet ein. Natürlich profitieren die Böcke auch von den vielen Hegebüschen sowie den ständig mit Weizen beschickten zahlreichen Schütten und schieben daher im Schnitt für unsere Begriffe schier unglaubliche Gehörne.
Nicht Stalken sondern Sitzen ist angesagt
Es ist schon komisch. Manchmal fallen einem zu den unmöglichsten Anlässen irgendwelche Aussprüche ein, die irgend jemand irgendwann gemacht hat. Auf der Forth-Road-Bridge waren es mit einem Mal die Worte von Michael Roberts, dem schottischen Partner des deutschen Vermittlers, Jagdbüro Kahle, die ich wieder mit dem inneren Ohr hörte. Ich hatte ihn anlässlich der Jagd und Hund in Dortmund kennen gelernt und Gefallen an seiner Offerte gefunden. Er garantiere nichts, ich möge mir die Streckenfotos anschauen, die Ergebnislisten studieren, mir mein eigenes Urteil bilden und mich schnellstmöglich entscheiden, wenn ich einer von zwei Gästen sein wolle, die das Gut im Mai 2002 aufnimmt.
Ich wollte, flog am 18. Mai von München nach Edinburgh, traf mich dort mit Björn und überließ es seinem Geschick, den Leihwagen durch den Linksverkehr zu manövrieren. Nach gründlichem Abwägen hatte ich dieser Variante den Vorzug der Anreise mit eigenem Auto und Fähre gegeben, weil sie unterm Strich kaum teurer ist und zwei Tage Zeitgewinn gewährt. Bei Bullenhitze war ich in München in den Flieger gestiegen, und bei Schafskälte und Regenwind gelangte ich am Zielflughafen an, mit reichlich Regenzeug und zu wenig langärmeligen Hemden im Gepäck. Nach zwei Wochen Sonne hatte sich ein Tief in Schottlands Mitte eingenistet, und es würde wohl die ganze Woche regnerisch und windig bleiben, antwortete meine Hauswirtin, als wir die Farm nördlich von Perth erreicht und nach den Wetterausichten gefragt hatten. Das konnte ja heiter werden, zumal wenig später der Gamekeeper erklärte, dass die Rehe bei Regen ihre Einstände nicht verlassen würden. Daher sei nicht Stalken, sondern Sitzen angesagt. Die vielen Krähen, Möwen, Karnickel und Fasane, die wir auf dem Weg zur Unterkunft in Wiesen und Äckern sitzen gesehen hatten, verrieten zudem, dass die Vegetation wenigstens vier Wochen hinter der in Deutschland zurückhinkte. Im offenen Gelände brauchten wir demnach die Böcke nicht zu suchen.
Stark
Schlagartig änderten sich die Verhältnisse, als am zweiten Tag ab sieben Uhr die Sonne zu dominieren begann. Überall dort, wo an den beiden Tagen zuvor gähnende Leere herrschte, stand mit einem Mal Rehwild. So konnten wir von den öffentlichen Straßen aus nicht weniger als acht Böcke ansprechen, deren Trophäen um und über geschätzte 400 Gramm lagen. Auch unser Bekannter befand sich darunter.
Soeben hatte ich das Auto verlassen, da scheuchte er einen weiteren Konkurrenten durch den Raps. Die wilde Jagd steuerte auf mich zu und sprang in rasenden Fluchten um Armeslänge an mir vorbei. Nur die hüfthohe Steinmauer trennte mich letztlich von den Kontrahenten. Irgendetwas hatte der Verfolger doch von mir mitbekommen, denn plötzlich stoppte er, schlug um, passierte mich erneut, verhoffte auf zwanzig Meter und empfahl sich abgrundtief schreckend im leichten Troll. Diesen Bock hätte ich allzu gerne erlegt. Er war nicht nur sehr stark, sondern sichtlich alt und mit Sicherheit leicht zu kriegen. Den Platz dafür spähte ich sogleich aus.
Allein der (abends) darauf hin angesprochene Stalker teilte meine Begeisterung nicht und meinte, an all den Plätzen, wo wir Böcke gesehen hätten, seien schon welche geschossen worden. Daher kämen sie für die Bejagung nicht mehr in Frage. Er habe andere Revierteile im Sinn. Ehrlich gestanden hätte ich den so erfolgversprechenden Sonnentag lieber mit Pirschen als mit Sightseeing verbracht, und der pünktlich gegen 18 Uhr einsetzende Regen ließ ein Versäumnis erahnen. Wie bei den drei vorangegangenen Ansitzeinheiten blieb auch an diesem Abend der Erfolg nicht aus.
Hier allerdings hatte der Jagdführer zum Abschuss eines jungen Bockes gedrängt. Im Gespräch konnte ich ihm übrigens entlocken, dass in der Woche vorher ein spanischer Jagdgast einen Bock gestreckt hatte, der alles Dagewesene in den Schatten stellte: Netto weit über 600 Gramm Gehörngewicht, uralt, mit völlig geschlossenen Rosen, die man gerade noch mit beiden Händen umfassen konnte, rauen Perlen und einer Höhe von 25 Zentimetern. Eine erste Auspunktung deutete zudem auf den sagenhaften Wert von 180 CIC-Punkten hin.
Natürlich wollte ich wissen, ob er diesen Bock bestätigt und gezielt gesucht habe. Zur Antwort hob der Gamekeeper die Schultern und meinte nur, dass er in der betreffenden Ecke – wie anderswo auch – mehrere Böcke gesehen und dort auf gut Glück den Erfolg gesucht hätte. „You need luck – du brauchst Glück“, schloss er seine Ausführungen und ergänzte „a little bit at least – wenigstens ein bisschen.“ Drei volle Jagdtage warteten noch, und auf das bisschen Glück hoffte ich.
Links von den Rehen – ein Jogger…
Der nächste Morgen jedoch riss mich brutal aus allen Träumen und auf den Boden der Tatsachen zurück: Sturm und Regen. Ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür schicken würde. Trotzdem harrten wir ebenso tapfer wie fruchtlos bis 6.30 Uhr (dem verabredeten Zeitpunkt) auf der Leiter aus und baumten bis auf die Haut durchnässt sowie mit klammen Fingern ab. Hundegeknurre und -gebell in meinem Rücken ließen mich plötzlich in Habacht-Stellung gehen. Ein Jogger mit seinem Mischlingshund näherte sich. Der entgegen der Hinweistafel am Weg nicht angeleinte Mischling machte alle Anstalten, seiner Aggression freien Lauf zu lassen, und sein Herr startete lautstark hektische Versuche, ihn wieder in seine Gewalt zu bekommen.
Nachdem sich die Situation entspannt und wir unaufmerksam geworden, wenige Schritte zurückgelegt hatten, deutete Björn plötzlich in den Bestand und flüsterte: „Da, zwei Rehe!“ Zunächst sah ich nichts, dann jedoch achtzig Meter seitlich zwei wippende Spiegel und kurz darauf ganz überraschend einen großen und einen kleineren Wildkörper mitten auf dem Weg. Das Glas hoch und ein hundertstel später zur Büchse gegriffen: Das war der Wunschkandidat und kein Traum. Doch im Auffahren registrierte ich aus den Augenwinkeln eine „blaue“ Bewegung links von den Rehen und sehr nahe dran: der Jogger! Sein Kommen hatte das Wild wohl zum Verhoffen und danach zwangsläufig zum Abspringen veranlasst.
Immerhin, es gab jetzt einen Bock, auf den zu passen es sich lohnte. In den drei kurzen Stunden der folgenden Nacht schlief ich leicht, verschlief fast, und wir verspäteten uns um zehn Minuten. Bei leichtem Nieselregen, gutem Wind und einsetzendem Büchsenlicht pirschten wir sodann vorsichtig in Richtung Leiter. Ich war gerade im Begriff, den Schuh auf die erste Sprosse zu setzen, als mir Björn zuzischte: „Am Zaun-Eck steht ein Bock!“ So sehr ich auch den Hals reckte, ich entdeckte ihn nicht. Wie auch, wenn ihn für mich die Bodenwelle überriegelte. Im Abspringen erst kam er für mich in Anblick – der Gesuchte! Dass ich die nächsten zwei Stunden auf der Leiter wie unter Strom stand, wird jeder nachvollziehen können, doch der Bock, der später flott auf dem Wechsel spitz in unsere Richtung zog, war ein anderer: phänotypisch uralt, mit riesigen Dachrosen – Björns turn! Im Moment der Freude ahnte ich nicht, dass ich damit das Blatt aus der Hand gegeben hatte. Ein Bock war gefallen, der Platz hatte seine Schuldigkeit getan.
Der nächste Gast im kommenden Jahr aber, der hier ansitzen darf, wird davon profitieren, dessen bin ich mir sicher. Und er wird das bekommen, was mir wohl hauptsächlich des schlechten Wetters wegen in der Woche vorenthalten blieb. Übrigens: Fallwildtrophäen, die uns am Nachmittag vor der Abreise (nicht früher!) gezeigt wurden, bestätigten unsere am einzigen Sonnentag gemachten Beobachtungen. Hier gibt es wirklich dicke Böcke – und die nicht zu knapp.
Hecken, Steinwälle und viel Deckung machen die Bockjagd in den schottischen Lowlands zur Herausforderung |