GAMSJAGD
„In den Bergen wohnt die Freiheit“, heißt es in einem alten Volkslied. Wenn der Jäger in den unwegsamen Alpen den Gams nachsteigt, spürt er, wie sie sich anfühlt. Heiko Hornung
Nicht zu fassen. Das Erste, was ich sehe, als ich die Tür des Geländewagens schließe, ist ein Wiesenschaden. Selbst hier oben, auf den Almen Hochsavoyens, über der Baumgrenze, haben Sauen nach Enzianwurzeln gebrochen und die dünne Erdkruste bis auf das Gestein umgedreht. Gott sei Dank bin ich für diesen Schaden nicht zuständig. Aber die Senner, die im Sommer hier das Vieh hüten und melken, haben viel zu tun und schimpfen gehörig, wenn sie die flachen Grassoden zeitaufwendig mit der Hand einebnen müssen. Denn es dauert, bis der Almboden wieder grün spriest.
„Letztes Jahr hat sich ein Stück Jungvieh in einem der Wühllöcher einen Lauf gebrochen”, sagt Maxime – ein sportlicher Mittdreißiger, der als Förster in dieser verlassenen Ecke Frankreichs seinen Dienst tut. Heute steigt er mit mir inmitten des Wildreservates Les Bauges auf Gams. Der Sauenschaden grämt ihn ebenfalls wenig. Im Reservat ist der Wildschaden relativ. Die Gebiete dienen der Wildbiologie und der Forschung. Die Sauen sind neben Rot-, Reh-, Muffel- und Gamswild die fünfte Schalenwildart. Während die Sauen von selbst kamen, wurde das Rotwild hier gezielt ausgewildert. Den Bestand betrachtet der junge Förster inzwischen mit Sorge, der für gut 1000 Hektar Wirtschaftswald außerhalb des Reservates zuständig ist. „Wir müssten weit mehr schießen. Aber das steile und schwierige Gelände macht einen zahlenmäßig effektiven Abschuss schwierig“, sagt der Forstmann. Viele Jäger in der Gegend seien zu alt und der körperlich anspruchsvollen Jagd in dem steilen Gelände nicht mehr gewachsen.
Wir glasen die braunen Matten unterhalb der Steilwände des mächtigen Arcalod ab, der inmitten des knapp 6 000 Hektar großen Wildreservates auf 2 217 Meter aufragt. Unsere Aufmerksamkeit gilt einigen schwarzen Punkten. Einem kleinen Schar Gams, das sich dort eingestellt hat und bei dem einige mittelalte weibliche Stück stehen, die noch nicht führen. Der weibliche Abschuss ist beim Krickelwild Anfang November noch nicht erfüllt. Eine Pflicht, bei der ich gerne helfe.
Ich liebe die Gamsjagd. Sie ist so ganz das Gegenteil von der Jagd, wie sie uns heute zum Teil verfolgt. Der Schwarzwildschaden hier oben und die Gespräche mit dem jungen Förster haben es verdeutlicht – Schaden im Wald, Schaden im Feld, immer nur Ärger: mit den Bauern, mit den Behörden, zu Hause. Da kann einem das Jagenschon manchmal leid werden. Beim Gams ist das jedoch ganz anders. Es sind nicht nur seine Schönheit, seine Härte und seine Zähigkeit, die ihn so bewunderns- und begehrenswert machen. Nein, den Gams muss man nicht jagen, aber man kann! Das ist Freiheit. Kein anderes Wild, mit ihm vielleicht noch das Steinwild, verkörpert diesen Begriff so sehr. Sie lassen sich nicht füttern und ihre Trophäen sich nicht manipulieren. Die Gams überdauern den harten Bergwinter ohne Hilfe und erreichen als Wildtiere trotz der widrigen Lebensbedingungen zum Teil ein hohes Alter. Scheinbar mühelos überwinden sie Wände und Höhen. Und Schäden sind nicht ihr Problem, auch wenn es Menschen gibt, die der gemeinen Wald-Schad-Gams den Krieg erklärt haben. Maxime äußert, dass wir das soeben erblickte Schar, durch einen Felsvorsprung gedeckt, steil aufsteigend erreichen könnten. Nach einer halben Stunde sind wir an der Deckung, lugen um die steilen Felsen hinauf. Auf 300 Meter sehe ich sie gerade noch über den nächsten Grat steigen. Als Scherenschnitte gegen den grauen Herbsthimmel sichern sie herunter. „Hätten wir die Gams von der anderen Seite angegangen, wären sie vielleicht ins nächste Hochkar gerückt“, sagt mein Jagdführer. Unterhalb der Steilwände des Arcalod liegt eine kleine Senke mit großen Steinblöcken und Schotterreisen, in denen nicht nur schmackhafte Berggräser, sondern auch das nahrhafte Fettkraut gedeihen. Flugs haben wir die Rucksäcke wieder auf dem Buckel, und Maxime nimmt das Kar im Blick unter die Stiefel, natürlich steil und direkt bergauf. Irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass er meine Geländegängigkeit und Kondition testen will. Als wir an die Kante des Kars gelangen und hineinblinzeln, entdecken wir auf einem großen Steinquader zusammengerollt einen Bergfuchs, der seine Nase unter die buschige Lunte gesteckt hat. Er schläft so fest, dass er uns am Rande des Kessels kaum 50 Schritt entfernt nicht mitbekommt. Im Niederwildrevier säße schon wieder der Schussteufel im Genick und würde seinen Tod fordern. Im kontrastreichen Fernglas kann ich das Spiel des Windes in den Grannen seines dichten Winterbalges bewundern. Hinter den Steinquadern steigt eine hohe vereiste Steilwand auf. Auf einem schneebedeckten Plateau darüber zieht ein Bock mit waagerecht gehaltenem Träger und herausgestrecktem Lecker einer möglichen Geliebten nach. Sie kümmert sich noch nicht um den Hochzeiter im schwarzen Rock. In einigen Tagen werden hier wilde Jagden stattfinden. Auf übersichtsreichen Plätzen ruhen schon einige Herren und wachen über das Scharwild in ihrer Reichweite, visitieren, probieren bis das Gerangel um die holde Weiblichkeit beginnt. Eines der schönsten Schauspiele in den schneebedeckten Höhen. Obwohl Anfang November einiges an Schnee gefallen ist, hat sich das Gamswild noch nicht umgestellt. Wir müssen also noch höher hinauf an die letzten steilen Graslehnen, direkt unter die fast senkrechten Wände des wolkenumwallten Arcalod. Ein schmaler Wildwechsel führt aus dem Kar, entlang einer Geröllrinne, dort hinauf.
Frische Fährten und Losung verraten, dass hier vor noch nicht allzu langer Zeit Gams zogen. Atem und Herzschlag haben ihren Rhythmus gefunden. Schritt für Schritt stemmen die brennenden Beine die Männer nach oben, presst der Schweiß aus allen Poren. Sich selbst spüren, Leben spüren, mit seiner ganzen Unvollkommenheit, und mit jedem kleinen Schritt über sich hinauswachsen. Das ist es, was Bergsteiger und Jäger immer wieder hinaufdrängt. Nach gut 100 bis 200 Höhenmetern wird der Blick kurz auf steile Graslehnen frei, und da sehe ich plötzlich einige Stück Gamswild stehen. Da ich einen Kopf größer bin als mein Begleiter, kann ich sie früher erblicken und gehe in die Hocke. „Gams!”, flüstere ich und zeige mit dem Bergstock die Richtung des Anblicks an. Maxime schlägt vor, in der Rinne, in der wir uns befinden, noch etwas weiter aufzusteigen, um mit dem Wild auf eine Höhe zu kommen. Neben der Anstrengung macht die Aussicht auf Beute das Blut heiß. Maxime hält nach einigen Metern inne. „Ab jetzt gehst du alleine weiter”, sagt er und überrascht mich damit. Ohne Schneetarn sind zwei dunkle Jäger im Schnee ohne Deckung zu viel für das gut äugende Bergwild.
Bisher war es immer ganz angenehm, einen erfahrenen Jäger neben sich zu haben, der das Urteil beim Ansprechen bestätigte. Denn gerade beim weiblichen Gamswild braucht es beim Herausspekulieren des richtigen Stückes eine Menge Erfahrung. Der Förster lächelt. „Wir kennen uns schon aus einigen Pirschgängen. Du bist erfahren genug”, zerstreut er meinen zweifelnden Blick. Ein schwaches Kitz, ein nicht führendes zwei- bis dreijähriges Stück oder eine alte Geiß, das ist die Freigabe.
In tiefer Hocke rücke ich quer zum Hang vorwärts. Als ich die ersten Ziemer ausmache, schiebe ich mich auf dem Bauch nach vorne. In der rechten Hand zunächst den Rucksack, in der linken die Büchse. Das Fernglas habe ich unter die Jacke gesteckt. Schnell dringt die Nässe des Schnees durch die Jagdhose. Als ich in Schussposition bin, blicke ich noch schnell durch das neue Leica Geovid, mit dem ich nicht nur die Entfernung, sondern auch das Haltemaß für meinen Repetierer genannt bekomme. Das Dutzend Gams steht zwischen 200 und 250 Meter von mir entfernt. Näher komme ich in der strauchlosen Lehne nicht heran. Einige der Stücke sichern schon, können aber mit dem dunklen Punkt ohne Beine im Schnee nichts anfangen. Ich klemme mich hinters Zielfernrohr. Oben steht eine Geiß mit mehreren Kitzen und Jahrlingen. Etwas darunter einige mittelalte Stücke. Ob sie zu den Kitzen gehören, weiß ich nicht. Noch etwas tiefer eine weitere kleine Schar, die ich zunächst nicht bemerkt hatte. Darunter fällt mir sofort eine Geiß mit einer weiten Auslage auf, wie ich sie noch nie gesehen habe. Die Körperform ist eher quadratisch, der Schädel breit, was für ein höheres Alter steht. Unablässig geht das Absehen auf den verschiedenen Stücken hin und her.
Zur Freiheit gehört es auch, eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Aber welches Kitz gehört zu wem? Und ist das gerade anvisierte Stück wirklich ein nicht führendes zweijähriges? Manchmal ist in solchen Situationen der heilige Eustachius gnädig. Die Wächterin über mir stößt einen Warnpfiff aus. Das gesamt Schar ist aufmerksam. Die Kitze sortieren sich zu ihren Müttern, und langsam beginnen die Familientrupps sich abzusetzen. Die Geiß mit der weiten Auslage steht allein und sichert noch. Als sie wendet, um dem davonziehenden Schar zu folgen, peitscht der Schuss hinaus und rollt durch die Berge. Deutlich zeichnet die Geiß, und bevor sie über einer Hangkante verschwindet, bannt der zweite Schuss aus der schnell repetierenden Suhler Büchse das Stück auf dem Platz. Mein Begleiter hat alles aus sicherem Versteck heraus verfolgt. Auf die Bergstöcke gestützt, balancieren wir auf dem rutschigen Grund mit extremer Dachneigung zur Beute.
Der erste Blick geht zwischen die Hinterläufe: Kein gefülltes Gesäuge. Der zweite Griff geht in die nicht allzu hohen Krickel, die aber elf Jahresringe zeigen – alles richtig. Ich nehme das Waidmannsheil meines französischen Bergkameraden gern entgegen. Gut im Rucksack verstaut, geht es Richtung Tal. Es ist inzwischen später Nachmittag. Wir werden erst im Dunkeln am Fahrzeug sein. Bis dahin sollten wir den schneefreien Almboden erreicht haben. Die Täler sind mit Wolkenwatte gefüllt, und in der Ferne grüßt der mächtige Mont Blanc im rosa-orangenen Abendlicht. Auf den Zinnen des Arcalod zieht der eisige Wind von der Abendsonne vergoldete Schneevorhänge in die Höhe. Wie klein wird da der Mensch und sein Geschick. Wie unbedeutend seine Existenz und damit auch seine Sorgen. Der Tod, auch der eigene, den wir so fürchten und in unserer Gesellschaft verdrängen, wird angesichts dieser Größe zu einer lächerlichen Nebensächlichkeit. Heute bin ich glücklich beschenkt worden und frei.