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Bergpirsch in Tirol – Gams zum Schluss

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Bergpirsch

BERGPIRSCH IN TIROL
Der Traum, einen Sommergams zu erbeuten, war bereits aufgegeben. Doch kurz vorm Ende der Jagd bot sich eine einmalige Chance, die die Nerven auf eine Zerreißprobe stellte. Thore Wolf

Das Gepäck steht auf der Treppe des Jagdhauses. Jagd vorbei. Noch einmal schweift der Blick zum Streckenplatz. Langsam perlt ein Tautropfen an der Trophäe hinab und bleibt an deren Ende hängen. Grün wie die im Tal dahinfließende Isar spiegeln sich die umliegenden Bäume in ihm, und wie in einer kleinen Glaskugel schillert neben der Sonne auch die Erinnerung an das Erlebte darin. Um ein Haar wäre es schief gegangen. Fast wäre der Traum geplatzt. Sofort schallen in Gedanken wieder die Flüche meines Jagdführers auf, ich spüre noch einmal den aufgeregten Herzschlag, der mich für einen Augenblick fast hätte verzweifeln lassen … „Der Nebel gefällt mir net“, raunt mein Jagdführer Joseph Neuner. Die Sonne hat es schwer, an diesem Morgen durch die grauen Schwaden am Himmel zu stoßen. Immer stärker verhüllt dichter Hochnebel die Szenerie. Joseph wird unruhig. Er weiß, es ist mein letzter Jagdtag in Tirol, und noch hatten wir keine Chance, ein passendes Stück Rotwild oder gar eine Gams in Anblick zu bekommen. Leise flucht er vor sich hin. Immer wieder schiebt er den Hut auf dem Kopf zurecht. „Auf geht‘s, lauf mer a bisserl, vielleicht kriagn mer an Gams“, sagt der 44-Jährige. Wir beenden den Ansitz und versuchen unser Glück auf der anderen Seite des Hinterautals. Durch dichte Nadelwälder steigen wir immer höher. Eine Rehgeiß mit Kitz kreuzt unseren Pirschpfad. Wie Statuen erstarren wir und blicken den beiden, hinter zwei Fichtenstämme gekauert, nach. Um keine Unruhe zu verbreiten, warten wir etwas länger, bevor wir weiterpirschen. Die Pause ist mir äußerst willkommen. Schnell entledige ich mich der dicken Jacke, die ich noch vom Ansitz anbehielt. In diesem Gelände wird es bei der Steigerei recht schnell sehr warm – auch ohne Sonne.

Um in diese Schussposition zu gelangen, mussten einige Äste und kleine Stämme der Handsäge weichen.

Weiter geht es, und ich bin erstaunt, wie leichtfüßig der stark und groß gebaute Tiroler Berufsjäger Meter um Meter des steilen Berges hinter sich bringt, als würde er im Flachland wandern. Immer wieder glasen wir die steilen Hänge vor und neben uns ab, bevor wir weiter aufwärts steigen. Doch kein Haar lässt sich sehen. Kein Stück Rotwild, keine Gams. „Noch vor einer Woch‘ stand die Wand voll mit Gamswild“, sagt Joseph. „Aber das verfluchte Wetter!“ Auch zwei Stunden später sind die höheren Berglagen noch immer in dichten Nebel gehüllt. Es ist verhältnismäßig kühl an diesem Augusttag. „Das wird sich heut so schnell nicht ändern“, ist sich der Bergjäger sicher. So oft wir auch innehalten und die Gegend mit den Gläsern absuchen, wir sehen kein Wild. Weiter geht es über Schotterwege und Geröllfelder. Beim Anblick der um uns liegenden Urwälder aus Nadelbäumen und der bürstendichten weitläufigen Latschenfelder frage ich mich, wie man hier überhaupt ein Stück Wild ausfindig machen soll. „Bei dem Nebel brauch mer gar net weiter auffi gehn. Pack mer‘s“, beschließt Joseph. Etwas betrübt treten wir nach etwa zwei Stunden den Rückmarsch zum Auto an. Das war‘s dann wohl. Ich versuche, mir den Traum von meiner ersten Gams vorerst aus dem Kopf zu schlagen. Joseph ist nicht weniger missmutig. Man merkt ihm die Enttäuschung förmlich an. Am Pick-up angekommen, feuert er schroff und deprimiert seinen Bergstecken auf die Ladefläche. Kurz bevor wir einsteigen wollen, traue ich meinen Augen nicht.
Etwa 700 Meter weit entfernt entdecke ich einen dunklen Punkt im Oberhang. Gamswild? Noch bevor ich meinen Begleiter darauf aufmerksam machen kann, hat auch er schon das Doppelglas vor Augen. „Deifi nochmal!“, murmelt er vor sich hin und streicht über seinen Schnäuzer. „Komm, bevor‘s wegzogn is, des könnt villeicht passen!“, muntert mich der urige Tiroler auf. Wir lassen den Wagen stehen und marschieren in schnellen Schritten den Weg weiter, bis wir eine bessere Position haben, um den vermeintlichen Bock anzusprechen. Die braune Sommerdecke und die relativ hohen, gut gehakelten Krucken lassen keinen Zweifel. Der Bock passt. „Des könnt a Einser sein“, flüstert der Berufsjäger, „aber an Zweier hätt mer auch noch frei.“

Aber wie kommen wir ran? Oberhalb des Gams erhebt sich eine Steilwand, unterhalb ein großes Latschenfeld, das bis zum Fahrweg reicht. Würden wir das Stück hangparallel über das Geröllfeld angehen, würde es uns mit großer Sicherheit ausmachen. „I hab a Idee! Bleib!“ Eiligen Schrittes eilt Joseph zurück zum Auto. Was um Himmels Willen hat er nur vor? Nach wenigen Minuten ist der Jager wieder zurück. „Wir gehen durch die Latschen“, beschließt er. Geduckt pirschen wir unterhalb des Latschenfeldes den Hauptweg entlang. Immer wieder machen wir Halt, um Ausschau nach dem Bock zu halten. An das hundertfache „Servus“ der vorbeiradelnden Touristen haben wir uns inzwischen schon mühsam gewöhnt. Doch jedesmal zaubert es einen leicht säuerlichen Blick in Josephs Gesicht.

Das Hinterautal, in dem die Isar ihren Ursprung hat, ist ein beliebtes Ausflugsziel. Auf einer Länge von rund 15 Kilometern sind die Wege für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrt. Die ungezähmte Landschaft mit ihren zahlreichen Bächen und Flüssen lädt unzählige Wanderer und Mountainbiker geradezu ein. Zu Tausenden bevölkern sie an guten Sommertagen das wildromantische Tal zwischen Scharnitz und Rossloch im Karwendel. Das relativ milde Wetter heute hat sie wohl schon in aller Frühe in die Natur gelockt. Joseph streckt sich über die Wegböschung und glast den Steilhang ab. Vorsichtig kriechen wir in die dichten Latschen. Wenn das nur gut geht, denke ich. Aber der stämmige Tiroler Jäger hat vorgesorgt. Im Nu zaubert er eine Klappsäge aus seinem Rucksack. „Die hob i grad aus‘m Auto g‘holt“, verrät er mir grinsend und beginnt, Ast für Ast der vor uns liegenden Latschen abzusägen, damit wir besser vorankommen. Wie Maulwürfe schaffen wir uns langsam durch die knorrigen Stämme, halten immer wieder inne und beobachten den Gams, der sich sicher wähnt und vetraut im Oberhang äst.

Nach einer ganzen Weile haben wir eine Stelle erreicht, die freies Blick- und Schussfeld bietet. Auf einem Felsblock lege ich die Waffe auf, der Bock hat sich inzwischen niedergetan. Nur die schwarzen Krucken und einen Teil des Äsers kann ich durchs Glas erkennen. „Wenn er in die Rinne zieht, schiast!“, zischt Joseph. Eine gefühlte Ewigkeit liege ich im Anschlag, blicke im Wechsel durch das Zielfernrohr und mit bloßem Auge zum begehrten Stück. Die Gedanken kreisen: „Hoffentlich klappt es, hoffentlich zieht der Bock tatsächlich in unsere Richtung.“ Der Traum der ersten Gams scheint zum Greifen nah. Plötzlich erhebt sich der Bock und zieht ein Stück talwärts durch die Latschen. Tatsächlich, er hält auf die nur etwa zwei Meter breite unbestockte Rinne zu. Joseph misst die  Entfernung mit seinem Swarovski-Glas: „120 Meter“, höre ich ihn leise sagen. Mein Puls rast. Durchatmen. Der rote Punkt des Absehens tanzt auf und ab. Ich fühle mich wie ein Jungjäger, der sein erstes Stück erlegen will. Wieder durchatmen. Jetzt ruhig bleiben. Der Bock tritt aus, steht breit, und die Kugel verlässt den Lauf. Noch im Knall sehe ich, dass es etwa einen halben Meter oberhalb des Bockes staubt. Der Gams macht sofort kehrt und verschwindet. „Verdammt, des wor‘s, jetzt isser weg“ – Joseph springt auf, reißt zornig den Hut vom Kopf. Eine Unmenge unchristlicher Flüche folgen. Aber der Blick durchs Glas zeigt: Der Bock ist noch da. Er steht in den Latschen. Joseph hat sich im Nu wieder beruhigt, meine Aufregung ist stattdessen größer geworden. Selbstzweifel und riesiger Ärger martern mich. Wie konnte das passieren? Auf 120 Schritt Entfernung ein scheibenbreit stehendes Stück zu fehlen?

Es bleibt keine Zeit zum Grübeln. Im großen Bogen zieht der Bock wieder Richtung Rinne. Allerdings ein ganzes Stück weiter entfernt als zuvor. „Jetzt packst ihn aber!“, ermuntert mich der Berufsjäger schnaufend, er fiebert förmlich mit. „230 Meter“ – diese Worte beruhigen nicht gerade. Wie soll ich auf 230, wenn ich schon bei 120 …? Keine Zeit zum Nachdenken. Wieder steht der Gams breit. Für einen Moment ist jede Anspannung verflogen, ich fühle nur noch innere Stille, ruhig fährt der Zielpunkt knapp hinter das Blatt. Im Schussknall der .300 WSM geht der Bock zu Boden. „Waidmannsheil – Warum net gleich so!“, ruft mir Joseph freudig lachend zu. Mir fehlen die Worte. In meinem Kopf findet gerade ein Kampf zwischen riesiger Freude und ebenso großem Ärger über mich selbst statt. Letztlich überwiegt das Glücksgefühl über die erfolgreiche Jagd. Auch Joseph kann seine Freude nicht verbergen. Ebenso kräftig, wie er zuvor geflucht hatte, lacht er und freut sich mit mir: „Des wor jo a Krimi!“ „In der Tat“, denke ich mir noch jetzt, während ich den Tautropfen an der Kruckenspitze betrachte. Als er zu Boden fällt, nimmt ein wunderschönes Jagderlebnis, das mich fast hätte verzweifeln lassen, sein glückliches Ende.


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