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Letzte Wacht am Limes

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Im Testrevier Obertiefenbach ist die Blattjagd jedes Jahr ein Höhepunkt. Richard Günzel frönte ihr in drückender Sommerhitze auf den Spuren der Römer und kam ein wenig ins Grübeln.

Foto: Richard Günzel

Durch das Revier Obertiefenbach verlaufen die Überreste des römischen Grenzwalles Limes. Entlang des Taunus-Höhenzuges errichtet, gewährte er seinen Verteidigern weite Sicht nach Norden in die Magna Germania und ermöglichte im Krisenfall schnelle Truppenbewegungen. Zugleich bot er ein Zeugnis römischer Macht und Ingenieurskunst, das seinen Eindruck auf unsere weniger zivilisierten Vorfahren nicht verfehlt haben wird.

Besonders im Pohlwald, wo der Boden nicht durch landwirtschaftliche Nutzung planiert wurde, sind die Überreste des Walls samt Graben und eines Wachtturms sichtbar. Hier kreuzen sich Fernwechsel mit einem gut angenommenen Wildacker an der Feld-Wald-Kante. In der Vergangenheit ­haben unsere Redakteure dort schon einige brave Böcke bestätigt und auch zur Strecke gebracht (siehe WuH 7/2019). Von etwa 120 bis 260 n. Chr. bildete der Limes die Nordgrenze des römischen Kaiserreiches. Sechs Generationen römischer Legionäre und Hilfstruppen verdienten hier ihren Sold. Nach Abschluss ihrer 25-jährigen Dienstzeit winkte ihnen das ­begehrte Bürgerrecht sowie ein Landlos oder eine stattliche Abfindung. Allerdings gelangten selbst in ruhigen Zeiten nur ein Drittel in deren Genuss. Wie viele mögen hier, fern der Heimat, den Entbehrungen erlegen oder gefallen sein?

Mit diesen und anderen Gedanken im Kopf beziehe ich Stellung entlang einer Rückegasse. Es ist drückend heiß, der Boden knochentrocken, jede Bewegung verräterisch, fast schmerzhaft laut. Die 150 m vom asphaltierten Weg bis zu meinem Stand habe ich in einer halben Stunde zurückgelegt. Mit spitzen Fingern lege ich ein paar Äste und Blätter beiseite. Als ich wieder aufblicke, gucke ich mitten in die Lichter einer Ricke, die mich auf knapp 30 m mustert. Wie habe ich die denn übersehen? Weniger abschweifen, mehr auf die Jagd konzentrieren, herrsche ich mich an. Einige kritische Momente verstreichen. Dann kehrt wieder Ruhe in ihre Bewegungen ein, ganz vertraut trollt sie sich einige Meter weiter. Glück gehabt. Ein Blick auf die Uhr. Erstmal ein paar Minuten Ruhe halten.

Sofort komme ich wieder ins Grübeln. Sicher wird die Garnison hier gejagt haben, um ihre Rationen aufzubessern. Ob sie wohl die Kunst des Blattens beherrschten? Quellenbelege oder archäologische Zeugnisse gibt es dafür keine. Aber warum nicht? Die Römer waren emsige Jäger. Es bedarf schließlich nicht mehr als eines Buchenblattes dazu, und mancher Waidmann braucht nicht mal das. Ich gehöre allerdings nicht zu diesem erlauchten Kreis und drücke daher unverdrossen auf die Gummihupe aus dem Hause Buttolo: Pia, Pia, Pia. Kaum geschehen, rumort es schon gewaltig – zu meiner Irritation aus drei Richtungen gleichzeitig. Von links hinten springt durch den lichten Bestand ein Jährling. Er ist ein alter, zu gut veranlagter Bekannter. Auch die Ricke regt sich, stellt die Lauscher auf, trippelt umher. In der Verjüngung links vor mir dagegen rauscht wie eine Dampflok ein sichtlich Mehrjähriger heran. Gut im Gebäude, eine Stange gegabelt, eine Stange Sechser. Der passt! Als sei er gegen eine gläserne Wand geprallt, kommt er auf 15 m zum Stehen, mustert erst die Ricke, dann seinen jugendlichen Nebenbuhler. Noch hat sich der nicht zur Flucht gewandt. Ganz behutsam hebe ich die Waffe. Voller Anmut und Energie zugleich springt der ungerade Sechser auf allen Läufen mal dem Jährling, mal der Ricke zu. Ein Bild für die Götter. Dann verhofft er kurz, plätzt mit den Vorderläufen. Als er sich anschickt, den Parvenu in die Schranken zu weisen, streckt ihn die Kugel nieder.

Der vielleicht 4-jährige Bock sprang bereits auf die erste Strophe.
Foto: Richard Günzel

Als ich die letzte Wacht halte, mischt sich ob der Vergänglichkeit aller Dinge Schwermut in die Abendstimmung. Die Römer und ihr Weltreich sind Geschichte. Beim Anblick des leblosen Bocks mit dem Eichenzweig im Äser spüre ich neben Freude und Dankbarkeit auch einen Stich des Bedauerns. Seiner unbändigen Vitalität und Kraft habe ich ein jähes Ende bereitet. Bleiben wird nur eine verblassende Erinnerung an meiner Trophäenwand. Wie lange, bis ich ihm auf die andere Seite folge? Während der roten Arbeit hat sich der Jährling erneut genähert. Ruhelos umkreist er seinen gefallenen Rivalen, als sei er bereit, in dessen Fußstapfen zu treten. Darin liegt auch ein Zauber, ein Funken Hoffnung. Mögen in diesem Wäldchen noch viele Generationen Böcke und Jäger aufeinandertreffen.

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