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Der verlorene Traum – Gamsjad

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Der verlorene Traum

Einmal eine starke, alte Gamsgeiß jagen – ein Traum für den Liebhaber der Bergjagd. Doch oft hat der Berg seine eigenen Gesetze.

Heiko Hornung
Wenn am frühen Morgen graue lange Perlenfäden von Grashalm zu Grashalm hängen
und die sonst unsichtbaren Spinnennetze wie wertvolles Kristallgeschmeide sichtbar werden, erwacht mit ihrem Funkeln und Blitzen in mir die Sehnsucht nach den Bergen. Dann möchte ich am liebsten meine Bergstiefel schnüren, den Rucksack packen und in die blau-dunstigen Wälder der Alpen aufbrechen. Für die Germanen war der Altweibersommer
eine Zeit, in der das Schicksal der Menschen sichtbar wurde. Die alten Weiber, die Nornen, spannen und webten dann am Brunnen der Weisheit die Schicksalsgespinste der Menschen aus den Fäden der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft. Wie oft hoffte ich, dass unter den vielen Fäden mich einer mit Bergstock und Büchse in die geliebten Berge führen würde. Sehnsüchte und Träume sind Vorboten der Wirklichkeit. So wünschte ich es
heimlich und heftig, bis schließlich eines Tages eine Einladung in das herrliche Tirol
vorlag – auf eine Einser-Gams sollte ich gehen dürfen. Manchmal ist Weihnachten
eben schon im September, und die Vorfreude nach den vielen Jahren des Sehnens war nahezu euphorisch. Als ich in Scharnitz am Vorabend der Gamspirsch vor einer kleinen Alm
saß, einen frisch gebrühten Kaffee und Zwetschgenkuchen mit Schlagobers genüsslich
verzehrte, den Kindern der Almbäuerin beim Spielen und dem bimmelnden Bergvieh zusah, war ich dem Zustand der Seeligkeit sehr nah. „Jagd ist Bereitung und Hoffnung, Jagd ist Advent“, selten habe ich diesen Spruch von Gagern tiefer empfunden. Alles schien
sich in dem herbstlich angehauchten, süß-würzigen Bergwald hier in Tirol zu verdichten. Die Nacht war unruhig, genauso wie in der Kinderzeit, wenn man den Heiligen Abend mit dem heimeligen Lichterbaum und den Geschenken darunter kaum erwarten konnte. Im Dunkeln stehe ich im Hof der Pension und warte auf „meinen“ Berufsjäger, mit dem
ich gehen soll. Der Rucksack auf meinen Schultern ist wie immer viel zu schwer
gepackt. Es ist nicht nur das Gewicht von Spektiv, Verpflegung, Fotoausrüstung und Wechselwäsche, das ihn schwer werden lässt. Die Erwartung des Kommenden drückt auf die Schultern, ohne dass ich dieses Gewicht in Kilogramm messen könnte. Bald darauf rumpele ich im Jeep enge Schotterstraßen hinauf. Noch im Dustern beginnt ein steiler Aufstieg. Zwischen knorrigen Buchen und Bergahornen leuchtet über den Wänden des Karwendelstocks der kommende Tag herüber. Mein Begleiter ist Joseph Neuner. Ein starkgliedriger Berufsjäger mit schon lichtem Haar und einem dichten Schnurrbart. 38 Jahre zählt er, und hier in Scharnitz arbeitet er schon fast so lange er Berufsjäger ist. Das 21 000 Hektar große Revier betreut er noch mit zwei weiteren Kollegen. 120 Stück Wild muss jeder von ihnen jährlich bringen. Die Trophäenträger werden fast ausschließlich
durch Gäste erlegt, so auch die 90 Gams, die jährlich zum Abschuss stehen. Das Rehwild spielt mit 20 Stück eine untergeordnete, fast beiläufige Rolle. Das jagdliche Sahnehäubchen sind vier Birkhähne, die das Revier noch hergibt, und alle zwei Jahre steht ein Großer Hahn auf der Liste.

Bei einer Verschnaufpause bietet sich uns ein herrlicher Ausblick über das Revier. Im dämmrig-dunstigen Morgenlicht scheinen die Täler, die mit Nadelholz bestockt sind, wie mit blaugrünem Samt ausgeschlagen. Nur wenige kleine Lichtungen sind darin, eine schwierige
Rotwildjagd. Tief unten machen wir mit den Gläsern über einer Abbruchkante zum türkis dahinschäumenden Inn zwei Stuck aus. „In diesem Jahr ist mein Rotwildabschuss nochmal drastisch erhöht worden“, klagt der Berufsjäger ein bisserl. Rund 300 Stück Futterwild hatte der Neuner „Sepp“ im vergangenen Jahr an der Fütterung stehen. Zu viel, meint die
Behörde. Der Berufsjäger vermutet, dass er im Winter an seinen Raufen massiv Wild aus den Nachbarjagden mitgefüttert hat. Hier jagen die Adelshäuser Rothschild und Coburg. „Das waren nicht alles unsere“, meint er. Das „unsere“ verrät die Identifikation des Tirolers mit seinem Wild, dem Revier und der Heimat. Die Eltern betreiben im Tal in Scharnitz eine
Pension. In diesem Jahr war Fußball- Weltmeisterschaft. Die Gäste blieben in dem Grenzörtchen aus. Jetzt hoffen alle auf den Herbst. Und schon jetzt schieben sich täglich Wanderer und Radfahrer aus allen deutschen Landen auf den Wegen am Inn entlang. Auch das macht das Jagen nicht einfacher. Auf unserem steilen Jägerweg brauchen wir keinen Rucksack-Touristen zu fürchten. Der Pfad ist zu steil und zu schlecht, um von Heinz und Helga aus Wanne-Eickel in Angriff genommen zu werden. „Wos für a sakrisch sinnloser Berg“, hat dem Joseph sein beleibter Vater über den Brunnstein ironisch geschimpft,
dem wir schwitzend Höhenmeter für Höhenmeter zwischen den Latschen nehmen. Der Sepp ist froh, dass er mal einen jüngeren Jäger dabei hat, wie er mir gesteht. Als er mir aber im Dunklen meinen Rucksack reichte, verflog dieser Frohmut allerdings, denn wer freiwillig solch ein Gewicht in die Höhe schleppte, musste unerfahren oder verwirrt sein.
Doch ohne Murren trage ich die Fotoapparate, Verpflegung, Gewehr und Optik – Glück entsteht ja bekanntlich aus überstandener Anstrengung. Der erste Gams des Tages ist ein mittelalter Bock mit elendig hohen, starken Krucken. Hier oben ist in diesem Jahr noch kein Schuss gefallen, das merke ich an seinem Verhalten. Neugierig beäugt er die beiden Jäger. Nach einer gemächlichen Flucht verhofft er auf einer Hangkante und hebt sich gegen den goldenen Morgenhimmel ab – was für ein Bild! Wäre ich ein Wildschütz, selbst mit dem
windigsten Stutzen hätte ich das Böckerl mit seinen vielleicht fünf Jahren gepflückt. Er trägt schon die schwarz-ockerfabene Winterjacke. „Ich denke, wir kriegen einen frühen Winter, wenn die jüngeren Gams schon Anfang September fast ausnahmslos verfärbt haben“, meint der Joseph dazu. Gezielt steuert der Berufsjäger Felsnasen mit Deckung an. Die ersten Schar stehen hoch oben auf den baumlosen Matten. Erst wenn die September-Sonne gegen Mittag immer wärmer wird, sucht das Krickelwild Schatten in den Latschen.
Immer näher schieben wir uns an sie heran. Hier vier junge Böcke, dort in der Rinne eine Schar mit Geißen und Kitzen. Immer wieder lassen wir Hund, Repetierer und Bergstöcke zurück, pirschen zwischen Latschenbüschen und nehmen Stück für Stück ins Glas. Geißenjagd ist was für Könner. Es macht Spaß, mit dem Sepp die einzelnen Trupps auszuspekulieren, die einzelnen Stücke anzusprechen und das Alter zu taxieren.

Wir sind schon recht hoch. Gegen den blauen, wolkenlosen Himmel grüßt das Gipfelkreuz des Brunnstein herunter, und ich lasse während des Schauens immer wieder den Blick schweifen. Hinter der die Landeshauptstadt Innsbruck liegt. Ganz entfernt blinkt das
Wettersteinmassiv. Eindrucksvoll ragen die steinernen Giganten in den Herbsthimmel
und zwingen den Betrachter in bewundernde Demut. Es muss dieser gewaltige Anblick sein, der uns Menschen am Berg Gotteserfahrungen machen lässt. Ungerührt zeigen sie dem Homo sapiens seine Winzigkeit. Jeder einzelne muss bezwungen werden. Der Berg gibt, aber er nimmt auch, und seine Schätze müssen allesamt im Schweiß errungen werden. Ein Umstand, der Bergbewohner prägt. Die laute Überheblichkeit des Flachländers ist ihnen meistens fremd. Auf einem kleinen Plateau steht eine „sakrisch gute“ Geiß, lässt mich der Berufsjäger hinter dem Spektiv wissen. Aber die Spannung, ob diese anzugehen
sei, währt nur kurz, denn bald steht ein kleines Teufelchen, ein Kitz, neben ihr. So nach und nach zählen wir rund 60 Stück Gamswild beim Äsen. Viel Altes ist nicht dabei. Der letzte lange und harte Winter war sichtlich mit einem eisernen Besen durch die Bestände gegangen. Alles Alte und Schwache hatte er mit eisiger Hand weggerafft. Joseph erzählt,
dass der Inn im Frühjahr mit dem Schmelzwasser ein gutes Dutzend Gams angeschwemmt hat. Über eine mit Latschen bewachsene Rinne hinweg, stehen auf einem Geröll- und
Schotterfeld verstreut weitere Stücke. Jedes einzelne nehmen wir in die Linsen der Spektive. Geißen, Kitze, Jahrlinge, drei- bis vierjährige, alles zieht munter durcheinander. Eine tief stehende Geiß hat schmale, wenig gehakelte Krucken. Dafür haben die Schläuche eine beachtliche Länge und auch eine gute Auslage. Die Zügel sind verwaschen. „Zwölf wird sie haben“, meint der Profi neben mir, doch ob sie ein Kitz führt, lässt sich schwer feststellen. Ein Hubschrauber, der donnernd tief über den Brunnstein fegt, beantwortet
uns die Frage: Führend oder nichtführend? Denn flott haben sich die Kitze angesichts der knatternden Rotoren schutzsuchend zu ihren Müttern. Also ist sie nichtführend. Das Herz
macht einen Hüpfer, wie es das immer tut, wenn schussbares Wild endgültig angesprochen habe. „Die geh‘n mer an“, meint der Jäger, und schon haben wir alle sieben Sachen beieinander und steigen durch die Rinne. Hoffentlich verpfeifen uns die dort stehenden Gams nicht das Schar im Geröllfeld. Es ist ein munteres Warnen und Stampfen als wir an ihnen vorübersteigen, und ich habe eigentlich nicht viel Hoffnung, dass wir an der  innenkante noch irgendeine Granne in Anblick bekommen werden. Geduckt nutzen wir
außerhalb der Latschen noch einen Felsbuckel, als wir von einer abseits stehenden
Gams entdeckt werden und „unsere“ Schar flüchtig wird. Unter uns gehen sie ab. Den Repetierer habe ich schon von der Schulter. Am Bergstock stehend angestrichen folgt das Absehen meiner .308 der alten Geiß. „Die dritte von links ist es“, zischt der Jäger herüber und bestätigt damit das Objekt der Begierde. Die ersten der Schar verschwinden bereits steinelnd über einer Hangkante, als der Rest ein Haberl macht. „Wie weit?“, frage ich hinüber. „150 Meter“, antwortet Joseph kurz, da peitscht der Schuss hinaus und rollt
durch das Echo vervielfältigt in die Bergwände. Deutlich sehe ich das Stück zeichnen. Nach einigen Metern bereits geht es runter und legt sich behutsam auf die Seite. Klingelnd schlägt die ausrepetierte Hülse über die Steine. Ich muss nicht mehr nachschießen. „Ein
sauberer Schuss. Ich hab es hinterm Blatt einschlagen seh‘n. Waidmannsheil!“, ruft der Sepp und klopft mir auf die Schulter. Ich freue mich riesig. Was für eine ehrliche Jagd.

Die liegende Gams schlegelt noch ein paar Mal, dreht sich, überschlägt sich einmal und noch einmal. Immer schneller werden die Überschläge. Bald schon ist sie unseren Blicken entschwunden. „Da drunten sind Latschen. Da hakelt sie sich bestimmt ein“, meint der Neuner Joseph. Mit freudiger Gewissheit steigen wir in der Schuttrinne hinunter, in der die Gams wie in einer Bob-Bahn hinunterfuhr. Deutlich ist die Schweißspur zu sehen,
und meine Brandl-Hündin „Asti“ zerrt heftig an der Leine. Als wir ins Latschenfeld
schauen, liegt da auf den ersten Blick nichts. Der Hang ist elendig steil. Sepp will selber weitersehen und heißt mich, quer auf ein Grasband zusteigen. Immer noch glauben wir, dass der Gams direkt vor uns liegen muss. Als ich meinen Ausguck erreiche, sehe ich den Joseph allerdings verzweifelt hin- und herklettern. Den Hut hat er von seinem kahlen Haupt genommen, und obwohl wir ein ganzes Stück voneinander entfernt sind, kann ich eine
ganze Menge äußerst unchristlicher Flüche hören. Schnaufend und zeternd erreicht mich der Jäger nach 20 Minuten, ohne Gams. „Sie ist durch die Latschen durch und in die Wand gestürzt“, berichtet der 38-Jährige fast ungläubig. „So was ist mir ja noch nie passiert“,
schimpft er. Das stumpfe Gefühl der Enttäuschung und ohnmächtiger Bitterkeit greift nach mir. Was war es für eine schöne Jagd, aber ohne Beute ist sie einfach nicht rund, war sie sinnlos. Der letzte Funken Hoffnung, die Hochkruckige, meine erste Einser- Gams, meinen Traum, doch noch zu finden, zerschlagen sich jäh, als wir abgestiegen sind und am Fuß der Wand am späten Nachmittag angelangen. Dort ragt nahezu senkrecht, mit zahllosen Spalten, eine martialische Steilwand mit rund 600 bis 700 Metern in die Höhe. Irgendwo dort hinein ist „meine“ Gams geschlagen. Wenn wir noch etwas finden sollten, dann sicher
nur noch Reste. Den Plan, mit Seil und Eisen in die Wand zu gehen, verwirft der Jagdleiter am Abend. Wenn noch jemand helfen kann, dann sind es die an Felswänden entlang streichenden Wotansvögel. Ihr Rufen und ihr Kreisen könnte den Absturzort der Beute,
oder deren Reste, verraten. Doch so oft der Berufsjäger morgens und abends mit Glas und Spektiv vor der Wand saß: Kein Adler, kein Kolkrabe verkündete froh den Fund. Der
Berg hatte die Gams, meinen Traum, einfach verschluckt, als wäre er nie gewesen.


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